Heinz Kindermann, o. Univ.-Prof. Dr. phil.
- Theaterwissenschaft
- Germanistik
- Philosophische Fakultät
Heinz Kindermanns wissenschaftliche Karriere zeigt einprägsam den Weg eines deutsch-völkischen Studenten der Germanistik an der Universität Wien zu einem einflussreichen NS-Literatur- und Theaterwissenschaftler. Er war Gründer des 'Zentralinstituts für Theaterwissenschaft' an der Universität Wien 1943. Zwischen 1933 und 1945 veröffentlichte Kindermann über 30 Bücher und ca. 70 Aufsätze bzw. Zeitungsartikel mit eindeutig nationalsozialistischer Ausrichtung. Im Mai 1945 wurde er seines Postens enthoben, 1954 erhielt er das Ordinariat ebenso wie die Leitung des theaterwissenschaftlichen Instituts zurück. Er galt bis zu seinem Tod international als bedeutender europäischer Theaterhistoriker, seine zehnbändige „Europäische Theatergeschichte“ als Grundlagenwerk. Zeitlebens distanzierte er sich nicht von seiner nationalsozialistischen Vergangenheit; er verleugnete diese und transformierte diese in das Konstrukt europäischer Theatergeschichte.
Vom völkischen Studenten zum Privatdozenten
Der in Wien Hernals als Sohn eines Papierhändlers aufgewachsene Heinz Kindermann inskribierte 1913 Germanistik, Skandinavistik und Romanistik an der Universität Wien. Aufgrund einer Erkrankung wurde er nicht zum Kriegsdienst eingezogen, arbeitete aber seit 1914 als Bibliothekar am Germanistischen Seminar. 1917/18 wurde er „Führer der deutsch-völkischen Studentenschaft“. Zwei jüdische Studienkollegen, die Schriftsteller Józef Wittlin und Joseph Roth, erinnerten seine antisemitische und autoritäre Einstellung sowie die Verachtung, die Kindermann ihnen entgegenbrachte. 1918 promovierte er mit einer Arbeit über den schwäbischen Dichter Hermann Kurz im Fach Germanistik an der Universität Wien und ging im Herbst zu weiteren Studien nach Berlin, u.a. zu Max Herrmann, dem Pionier der Disziplin Theaterwissenschaft. Kindermann wurde 1919 Referent im österreichischen Unterrichtsministerium im Bereich Volksbildung, er gründete die gleichnamige Zeitschrift, initiierte eine Wanderbühne des Ministeriums und wurde 1925 administrativer Referent für das Burgtheater. 1924 folgte mit einem Buch über J. M. R. Lenz die Habilitation an der Universität Wien für neuere deutsche Sprache und Literatur.
Ordinariate an der Technischen Hochschule Danzig und Universität Münster
1926 wurde er außerordentlicher Professor für Literaturgeschichte und Ästhetik an der Akademie der bildende Künste Wien. 1927 erfolgte der Ruf als ordentlicher Professor für deutsche Sprache und Literatur und Ernennung als Direktor des Germanistischen Seminars der Technischen Hochschule Danzig. Kindermann publizierte literaturhistorische Studien zur „Deutschen Bewegung“, zu deutschen Volks- und Schwankbüchern und zu Goethe, dessen Literaturproduktion er biologisch-anthropologisch deutete. Am 1. Mai 1933 trat er in Danzig der NSDAP bei. Er arbeitete an der Kanonisierung lokaler deutsch-völkischer Dichtung in Polen. Mit zahlreichen Anthologien und Artikeln in NS-Medien, als Ausdruck nationalsozialistischen kulturellen Kampfes gegen slawische Kulturen galt er als 'Vorkämpfer des Deutschtums im Ostraum'. Mit editorischen Großprojekten wie der 1934 erschienenen Reihe „Handbuch der deutschen Kulturgeschichte“ markierte Kindermann seine Deutungshoheit für nationalsozialistische Geschichtsmodelle. 1936 erfolgte der Ruf als ordentlicher Professor für neuere deutsche Literatur und Theatergeschichte an die Universität Münster. Hier vertiefte er sein Netzwerk zu mächtigen nationalsozialistischen Akteuren wie Alfred Meyer, u.a. Gauleiter von Westfalen-Nord, als dessen „kulturpolitischer Berater“ er aufschien. Kindermann schrieb als Lektor für die vom Amt Rosenberg herausgegebene Bücherkunde zahlreiche Rezensionen, korrespondierte mit dem „Ahnenerbe“ und wurde förderndes Mitglied der SS. Mit „Dichtung und Volkheit“ (1937) legte er eine Studie zu nationalsozialistischer Literaturgeschichtsschreibung vor, die auf 'rassenbiologischen' Grundlagen basierte. 1938 erschien als Geburtstagsgeschenk für Hitler die dem Anschluss Österreichs gewidmete Anthologie „Heimkehr ins Reich“, für die sich Adolf Hitler persönlich bei Kindermann bedankte. Auf den Kriterien 'Rasse' und 'Volk' baute er sein theaterhistorisches Modell, das 1939 im Buch „Burgtheater. Erbe und Sendung eines deutschen Nationaltheaters“ breit rezipiert wurde. Mit diesem Band kommunizierte er seinen Anspruch, für die Disziplin Theaterwissenschaft kanonbildend zu sein. Der wichtigste Pionier des Fachs, Max Herrmann, war zu diesem Zeitpunkt als Jude geächtet und entlassen worden, 1942 wurde er in Theresienstadt ermordet. Von seinen ehemaligen Schülern, wie Hans Knudsen, war er auch aus den nichtuniversitären theaterwissenschaftlichen Vereinen gedrängt worden, seine grundlegenden Arbeiten wurden nicht mehr genannt oder diffamiert.
Implementierung der NS-Theaterwissenschaft und Gründung des 'Zentralinstituts' in Wien
Die von Herrmann initiierte akademische Disziplin erfuhr im NS eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit. Ein Konkurrenzkampf um universitäre Institutionalisierung und Deutungsmacht für eine nationalsozialistische Theaterwissenschaft fand zwischen Akteuren wie Carl Niessen (Köln), Hans Knudsen (Berlin), Artur Kutscher (München) und Heinz Kindermann statt. Dieser scheint über das effektivste politische Netzwerk verfügt zu haben, denn ab 1940 wurde eine Berufung Kindermanns als erster theaterwissenschaftlicher Ordinarius an die Universität Wien vorbereitet. Verantwortlich dafür waren der Reichsstatthalter Wiens, Baldur von Schirach und der Reichserziehungsminister Bernhard Rust. Die Universität Wien wehrte sich gegen diese Berufung, da sie sich in ihrer Entscheidungsmacht übergangen fühlte, insbesondere der prominente NS-Literaturhistoriker Josef Nadler formulierte Kritik an Kindermanns Kompetenz. Trotz dieser Widerstände wurde das Ordinariat für Theaterwissenschaft eingerichtet, mit Kindermann besetzt und unter dessen Leitung im Sommersemester 1943 das 'Zentralinstitut für Theaterwissenschaft' eröffnet. Die repräsentativen Räume im Reichskanzleitrakt der Hofburg waren auf Anweisung Schirachs kostenlos zur Verfügung gestellt worden, um auch dem letzten Argument der Universität gegen die Neugründung, der Raumnot, zu entgegnen. Kindermann entwickelte sein wissenschaftliches Programm basierend auf den von ihm in Münster entworfenen 'Grundzügen' einer neuen nationalsozialistischen Literaturwissenschaft. Für Theaterwissenschaft benannte er nun 'Rasse und Volk' sowie 'Erbe und Sendung' als Grundlagen, die Disziplin selbst als 'Lebenswissenschaft'. „Theaterwissenschaft als Lebenswissenschaft“ war der Titel seiner Antrittsrede. Als 'Kampf um die deutsche Lebensform' und 'europäische Sendung des deutschen Theaters' propagierte er eine akademische Disziplin als Legitimation für den deutschen Vernichtungskrieg gegen alles Nicht-Deutsche. Kindermann und seine erste Dissertantin in Wien, Margret Dietrich, arbeiteten auch an einem neuen Menschenbild. Untersuchungen am Schauspieler sollten Mimik und Gebärde im Sinne „rassisch-volkhafter“ Kategorien historisieren.
Berufsverbot und Rehabilitierung
Im Mai 1945 wurde Kindermann seines Postens enthoben und sämtliche seiner Schriften verboten. So publizierte er bis 1947 unter Pseudonymen, wie Frederik H. F. und Hans Fritz oder Marianne von Lukas. Ab 1948 veröffentlichte er wieder unter seinem Namen. Es erschien die umfangreiche „Theatergeschichte der Goethezeit“ und er wurde Theaterkritiker für die „Neue Wiener Tageszeitung“. Zahlreiche Rezensionen verfasste er für die Literaturzeitschrift „Freude an Büchern“ (1950–1954), als deren 'verantwortlicher Redakteur' Margret Dietrich aufscheint, er selbst wird dann Leiter des Redaktionskollegiums. Mit Dietrich gemeinsam veröffentlichte er 1950 das „Lexikon der Weltliteratur“. Außerdem erhielt er vom Unterrichtsministerium gut dotierte Forschungsaufträge. 1954 wurde er wieder Leiter des theaterwissenschaftlichen Instituts.
Es war Auftakt seiner zweiten universitären Karriere. Kindermann profilierte sich über sein im Nationalsozialismus konstruiertes theaterhistorisches Modell als unumgängliche theaterwissenschaftliche Instanz. Auf Vorschlag von Richard Meister wurde er wirkl. Mitglied in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (1960) und richtete dort die „Kommission für Theatergeschichte Österreichs“ (1962) und das „Institut für Publikumsforschung“ (1973) ein. Er war nach seiner Emeritierung 1966 weiterhin hochaktiv in internationalen fachpolitischen Vereinigungen tätig.
Ehrungen
Zahlreiche Ehrungen, Ehrenmedaille in Gold (1965), Grillparzer-Ring (1970), Großes Goldenes Ehrenzeichen der Republik Österreich (1975), Goldenes Ehrenzeichen Land Wien (1975) zeugen von seiner geglückten Metamorphose vom prononcierten NS-Wissenschaftler zum feinsinnigen 'Theaterprofessor' im postnazistischen Österreich.
Archiv der Universität Wien, Personalbogen, Senat S 304.605 (2 S.); Archiv der Universität Wien, Philosophische Fakultät, Rigorosenakt PH RA 4473;
Archiv Österreichische Akademie der Wissenschaften: ÖAW 1112/60, 13.6.1960, Heinz Kindermann: Lebenslauf des korr. Mitgl. Heinz Kindermann, Typoskript (4 S.)