Der Mord an Prof. Moritz Schlick
Der Philosophieprofessor Moritz Schlick, Begründer des berühmten Wiener Kreises, wurde am 22. Juni 1936 auf dem Weg zu einer seiner Vorlesungen auf der sogenannten Philosophenstiege im Hauptgebäude der Universität Wien erschossen. Der Täter Hans Nelböck war ein ehemaliger Student Schlicks, der fünf Jahre zuvor bei ihm promoviert hatte.
Vorgeschichte
Bereits in den Jahren vor dem Attentat hatte Nelböck Moritz Schlick zwei Mal offen mit Mord bedroht. Die Anzeigen Schlicks bei der Polizei führten zur Einweisung Nelböcks in eine psychiatrische Anstalt. Da er jedoch als ungefährlich beurteilt wurde, wurde er beide Male wieder entlassen.
Gerichtsverhandlung und Verurteilung
Hans Nelböck war nach dem Mord voll geständig und ließ sich widerstandslos festnehmen und das Gericht befand ihn für zurechnungsfähig. Der Täter zeigte auch in der Gerichtsverhandlung keinerlei Reue und nutzte die öffentliche Aufmerksamkeit im Gegenteil für seine Selbstdarstellung als eigentliches Opfer: Schlicks antimetaphysische Philosophie habe seine moralische Überzeugung verunsichert, wodurch er seinen lebensweltlichen Rück- und Zusammenhalt verloren habe.
Nelböck gab zudem an, aus Eifersucht wegen der unglücklichen Beziehung zu seiner Studienkollegin Sylwia Borowicka gehandelt zu haben. Nelböck verdächtigte Schlick mit der ehemaligen Studentin eine Affäre zu pflegen und entwickelte paranoide Phantasien von Schlick als seinem Rivalen. Diese Argumentation wurde von einigen politischen Gegnern Schlicks übernommen und wird auch heute noch immer wieder angeführt, hat sich jedoch als eindeutige Deckerzählung erwiesen, um von den politischen und ideologischen Motiven des Mordes abzulenken.
Das Schwurgericht verurteilte Nelböck zu zehn Jahren Haft. Nach dem „Anschluss“ 1938 wurde er jedoch von den Nationalsozialisten nach nur zwei Jahren vorzeitig auf Bewährung aus der Haft entlassen.
Reaktion im austrofaschistischen Österreich
In der zeitgenössischen Wahrnehmung der Ermordung zeigten sich deutlich der wachsende Nationalismus und Antisemitismus in Österreich, und im Besonderen an der Universität Wien. Dass Schlick gar nicht jüdisch war, spielte dafür überraschenderweise kaum eine Rolle. In mehreren Äußerungen wurde aus diesem Hintergrund eine aktive Schuldumkehr betrieben.
Die wohl bekannteste antisemitische Schrift stammte von dem an der Universität Wien lehrenden Staatswissenschafter Johannes Sauter und wurde im Sommer 1936 unter dem Pseudonym „Prof. Dr. Austriacus“ in der katholischen Wochenschrift „Schönere Zukunft“ veröffentlicht. Sauter wies darin dem Mordopfer Moritz Schlick die die Verantwortung für seine Ermordung zu, da dieser mit der Trennung von Wissenschaft, Metaphysik und Glauben christlich-deutsche Werte verletzt habe:
"Wir möchten aber doch daran erinnern, daß wir Christen in einem christlich-deutschen Staate leben, und daß wir zu bestimmen haben, welche Philosophie gut und passend ist. Die Juden sollen in ihrem Kulturinstitut ihren jüdischen Philosophen haben! Aber auf die philosophischen Lehrstühle der Wiener Universität im christlich-deutschen Österreich gehören christliche Philosophen! Man hat in letzter Zeit wiederholt erklärt, daß die friedliche Regelung der Judenfrage in Österreich im Interesse der Juden selbst gelegen sei, da sonst eine gewaltsame Lösung derselben unvermeidlich sei. Hoffentlich beschleunigt der schreckliche Mordfall an der Wiener Universität eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage!"
Gedenken
1993 wurde an jener Stelle auf der Philosophenstiege, an der Moritz Schlick ermordet wurde, folgende Inschrift in den Boden eingelassen:
"Moritz Schlick, Protagonist des Wiener Kreises, wurde am 22. Juni 1936 an dieser Stelle ermordet. Ein durch Rassismus und Intoleranz vergiftetes geistiges Klima hat zur Tat beigetragen".