Ludo Moritz Hartmann

2.3.1865 – 14.11.1924
born in Stuttgart, Germany died in Wien, Austria

Der Althistoriker, Mediävist, Politiker und Volksbildungspionier Ludo Moritz Hartmann (1865–1924) stammte aus einem großbürgerlich-intellektuellen, kosmopolitischen Elternhaus. In diesem traf sich die Elite der Wiener liberalen großbürgerlichen Gesellschaft, so beispielsweise Adolf Exner, Heinrich Friedjung oder die Familie Wertheimstein. Hartmanns Mutter Bertha, die aus einer wallonisch-reformierten rheinischen Gemeinde in Hanau stammte, betätigte sich frauenemanzipatorisch. Sie war Ausschussmitglied des im Jahr 1888 gegründeten „Vereins für erweiterte Frauenbildung“ sowie Mitarbeiterin des 1897 gegründeten „Vereins Kunstschule für Frauen und Mädchen“ unter der Präsidentschaft von Margarete Jodl. Hartmanns Vater, Moritz Hartmann, stammte aus dem jüdischen Bürgertum Böhmens und kämpfte gegen das Metternichʼsche Regime. Er war als Schriftsteller tätig, unter anderem als politisch verfolgter Chronist der Ereignisse im Revolutionsjahr 1848 in Wien und darüber hinaus Abgeordneter der „Deutschböhmen“ an der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Moritz Hartmann war radikal-demokratisch eingestellt, was auch Ludo Hartmann geprägt hat, indem er bereits in jungen Jahren Wachsamkeit gegenüber sozialen Missständen und autoritär-paternalistischen Verhältnissen entwickelte. Auf Wunsch des Vaters, der starb, als sein Sohn erst sieben Jahre alt war, wurde Ludo Hartmann konfessionslos zu Redlichkeit, Verantwortungsgefühl, Selbstlosigkeit und Disziplin erzogen. In der kulturellen Emanzipation des Einzelnen erkannte er eine wichtige gesellschaftliche Dimension, um Nationalitätenkonflikten, sozialen Unruhen sowie Vorurteilen und Stereotypen entgegenzuwirken. Hartmann begriff kulturelle Emanzipation, also die Vergesellschaftung von Bildung und Wissen, als zentrale bildungspolitische Herausforderung und Aufgabe demokratischer Entwicklung, der er sich als rastloser revolutionärer Reformer sein Leben lang in verschiedenen Bereichen widmete.

Ludo Hartmann besuchte das Wasagymnasium in Wien und studierte ab 1883 in Wien und in Berlin. Sein Studium der Geschichte in Berlin schloss er im Jahr 1887 bei seinem Doktorvater Theodor Mommsen ab, ein Jahr darauf stellte er seine Habilitationsschrift für Alte und Mittelalterliche Geschichte an der Universität Wien fertig. Erst im Jahr 1918 wurde der langjährige Dozent zum außerordentlichen Professor, im Jahr 1924 schließlich, unter Protest zahlreicher Studierender gegen Hartmanns jüdischen Hintergrund sowie seine sozialistische Gesinnung, zum ordentlichen Professor ernannt.

Seine historischen Studien publizierte er in Monografien und Fachbeiträgen und darüber hinaus, für die breite Öffentlichkeit, auch in zahlreichen Büchern und Zeitungsartikeln (etwa in der Neue Freien Presse, in der Arbeiterzeitung oder im Wissen für Alle). Besonders hervorzuheben ist sein vierbändiges Werk zur „Geschichte Italiens im Mittelalter“ (1897), die Biografie seines Lehrers Theodor Mommsen (1908) oder seine vierbändige „Weltgeschichte in gemeinverständlicher Darstellung“ (1919–1923). Hartmann war zudem Herausgeber der von ihm mitgegründeten Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Generaldirektor des historischen Quellenwerkes „Monumenta Germaniae Historica“ und gemeinsam mit Rudolf Goldscheid Mitbegründer der „Wiener“ und der „Deutschen Soziologischen Gesellschaft“.

Neben seinen Schriften trat er – wie bereits sein Vater, der volkstümliche Vortragsreihen in Stuttgart und Genf gehalten hatte – als Vortragender an die breite Öffentlichkeit und begann engagiert und bald auch in verantwortlicher Funktion in der Wiener Volksbildung mitzuwirken. Mit einem Vortrag über „Mirabeau“ gab er 1890 sein volksbildnerisches Debüt. Bis zum Jahr 1923 umfasste seine Vortragstätigkeit rund 100 Vorträge zur römischen Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und einen Vortrag über seinen Doktorvater, den Nobelpreisträger Theodor Mommsen.

Als hervorragend vernetzter Intellektueller und umtriebiger Bildungsreformer wirkte er an der Gründung zahlreicher fortschrittlich-innovativer Bildungseinrichtungen in Wien mit und wurde schließlich zum führenden Pionier der österreichischen Volkshochschulbewegung. Unter Federführung von Ludo Hartmann wurde nach dem Vorbild der „University Extension“ an den Universitäten Cambridge (1873), London (1875) und Oxford (1877) im Jahr 1893 von Dozenten und Professoren eine Petition zur Einrichtung von volkstümlichen Universitätsvorträgen beim akademischen Senat der Universität Wien eingereicht. Im Jahr 1895 genehmigte das Unterrichtsministerium schließlich die ausgearbeiteten Statuten, wodurch der Grundstein für die wissenschaftsorientierte Volksbildung in Österreich gelegt wurde. Hartmann war auch treibende Kraft bei der Gründung der Frauenakademie „Athenäum“ im Jahr 1900, der er als stellvertretender Obmann vorstand. Auf Wunsch von Hörer*innen eines Philosophiekurses bei Adolf Stöhr zur Schaffung einer eigenständigen Institution zur kontinuierlichen Vertiefung der Bildungsangebote der University Extension erfolgte 1901 gemeinsam mit Emil Reich die Gründung des Vereines Volksheim Ottakring, der ersten Abendvolkshochschule Europas. Durch Hartmanns großes Geschick, die nötigen Mittel zu lukrieren, erhielt diese Volkshochschule ein modern ausgestattetes, mehrstöckiges Gebäude am heutigen Ludo-Hartmann-Platz im 16. Wiener Gemeindebezirk, das im November 1905 eröffnet wurde. Diese Bildungseinrichtung erlangte bald darauf weit über Europa hinaus Bekanntheit und Beachtung.

Hartmann, der Religion als ausschließliche Privatsache ansah, war 1905 darüber hinaus Mitbegründer des ersten auf Koedukation ausgerichteten antiklerikalen Vereins „Freie Schule“ in Wien.

Auch hinsichtlich des bereits 1887 gegründeten Wiener Volksbildungsvereins gelang es Hartmann, die finanziellen Mittel für ein eigenes Gebäude aus privater Hand sicherzustellen, das im Jahr 1909 in der Stöbergasse im 5. Wiener Gemeindebezirk eröffnet werden konnte.

Seine bildungspolitischen Aktivitäten beschränkte Ludo Hartmann keineswegs auf Wien, sondern er war auch überregional tätig. So trug er zur rasch erfolgten Etablierung volkstümlicher Universitätsvorträge in Innsbruck und Graz bei und organisierte ab 1904 die deutsch-österreichischen Volkshochschultage als Organisator und Referent maßgeblich mit.

Politisch war Hartmann, der sich 1901 der Sozialdemokratie anschloss, dem republikanischen Deutschnationalismus verbunden, der ihn lebenslang zu einem glühenden Verfechter der „großdeutschen Lösung“ machte und ihn der „Verwirklichung des großdeutschen Einheitsgedankens“ anhängen ließ. Als Gesandter Deutschösterreichs in Berlin (1918–1920) agitierte er, vor dem Hintergrund der anlaufenden Friedensverhandlungen, für den „Anschluss“. Von März 1919 bis November 1920 gehörte er zudem der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich an.

Sowohl als Universitätslehrer als auch als Volkshochschulvortragender sowie als Vereinsfunktionär setzte sich Hartmann als spätaufklärerischer Bildungsreformer gegen „verzopften kk. und k.u.k. Plunder“, „Kotau vor dem Klerikalismus“, gegen weltfremde Fachgelehrsamkeit, gegen ungerechtfertigte Simplifizierungen und gegen jede geistige Bevormundung ein, und propagierte die „geistige Emanzipation“ und das vorurteilslose „Denken lernen“, unabhängig vom jeweiligen Wissensgebiet. Als unverblümter Kritiker universitärer Missstände trat er unter anderem scharf gegen die praktizierte ausgrenzende Berufungspolitik sowie gegen die Benachteiligung sozialistischer, jüdischer oder konfessionsloser Studierender auf.

Als akribisch arbeitender Fachhistoriker, für den nur die „Massenkräfte als Faktoren der Geschichte“ galten, verschrieb sich Hartmann einer idealtypisch gedachten „absoluten Unparteilichkeit“ in der Wissenschaft wie auch in der Volksbildung und beharrte in der Wissensvermittlung auf der weltanschaulichen „Neutralität“ und inhaltlichen „Objektivität“, das heißt auf der strikten Trennung von Ideologie und Wissensvermittlung – sowohl im Rahmen universitärer Lehre als auch im Bereich der Volksbildung. In der bildungspraktischen Arbeit beschäftigte sich Hartmann, der vehement für freie Rede, Diskussion auf Augenhöhe und sachlich begründeten Widerspruch seitens der Zuhörenden eintrat, bereits früh mit dem Aspekt der Teilnehmer*innenorientierung. So führte Hartmann als Vertreter der historischen Soziologie erste sozialwissenschaftliche Analysen sowie erste statistische Hörerbefragungen in Volksbildungseinrichtungen durch.

Wissenschaftstheoretisch spannend ist sein Ansatz, populärwissenschaftliche Darstellungen selbst als wissenschaftliches Unterfangen zu begreifen. Vor dem Hintergrund der zunehmend ausdifferenzierten historischen Forschung sollte etwa die große Zahl an Spezialbereichen in Form einer kollektiv-wissenschaftlichen Synopsis zusammengefasst werden, unter Einschluss der allgemeinen „Schwierigkeit und Lückenhaftigkeit der Forschung“, die mit „rückhaltloser Offenheit“ zu thematisieren wäre.

Sein arbeitsintensives Leben endete am 14. November 1924 mit einem Herzinfarkt, als er gerade daran ging, ein administratives Schriftstück einer Volksbildungseinrichtung zu unterschreiben.

Christian H. Stifter

Zuletzt aktualisiert am 11/06/24

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