Das Jahr 1968
Die Ereignisse des Jahres 1968 markierten weltweit einen Höhepunkt in einem Jahrzehnt umfassender gesellschaftlicher, kultureller und politischer Veränderungsprozesse. Zentren der Rebellion gegen veraltete Gesellschaftsstrukturen ("Establishment") und Kapitalismus bildeten vor allem die USA, Frankreich und Deutschland. Getragen wurde sie von einer jungen Nachkriegsgeneration und vor allem Studierenden, die die alten autoritären Strukturen – auch an den Universitäten – in Frage stellten. In Österreich und an der Universität Wien verliefen die Proteste vergleichsweise ruhig.
Internationale Dimensionen
Auf internationaler Ebene erregten besonders der Höhe- und Wendepunkt des Vietnamkriegs, aber auch die chinesische Kulturrevolution unter Mao Zedong die Aufmerksamkeit der Protestbewegungen. In den USA spielte auch die Bürgerrechtsbewegung, deren Symbolfigur Martin Luther King am 11. April 1968 bei einem Attentat ermordet wurde, eine zentrale Rolle. Im Kontext der Bürgerrechts- sowie der Hippie-Bewegung breiteten sich in den 1960er-Jahren neue Protestformen zur Auflehnung gegen gesellschaftliche Normen aus wie Sit-ins, Go-ins, Love-ins, Teach-ins, Happenings etc., auch an den Universitäten. Demonstrationen gegen das Universitätssystem etwa in Berkeley wurden mit brutalen Polizeieinsätzen bekämpft.
In Europa stellten zudem die Menschenrechtsverletzungen des Schah-Regimes in Persien und der Militärdiktatur in Griechenland sowie besonders der „Prager Frühling“ und dessen Niederschlagung im Kontext des Kalten Krieges wichtige Anlässe für die Proteststimmung dar, die bis zu heftigen Straßenschlachten mit teils massiver Polizeigewalt führte. In Folge der militärischen Intervention von Teilen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei im August 1968 kam Österreich als Asyl- und Transitland für etwa 160.000 tschechoslowakische Flüchtlinge eine bedeutende Rolle zu.
In Berlin hatte 1967 der Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der während einer Demonstration gegen den Schah von Persien von einem Polizisten erschossen wurde, große Empörung und eine Welle der politischen Mobilisierung auch bisher nicht politisch aktiver Studierenden hervorgerufen. Im April 1968 fachte zusätzlich das missglückte Attentat auf Rudi Dutschke, einen der bekanntesten Vertreter der deutschen Studentenbewegung, die Proteststimmung weiter an. Medien wie der Springer-Konzern verurteilten die Proteste der Studierenden und befürworteten das gewaltsame Vorgehen.
Auch in Italien wurden bereits 1967 zahlreiche Universitäten von protestierenden Studierenden besetzt. In Paris mündeten Studentendemonstrationen gegen schlechte Studienbedingungen 1968 teils in blutigen Straßenschlachten mit der Polizei. Die Gewerkschaften solidarisierten sich mit den Studierenden und riefen im Mai 1968 einen Generalstreik aus, der das gesamte Land erfasste, sodass Präsident Charles de Gaulle mit der Verhängung des Ausnahmezustands drohte.
Österreich und die Universität Wien 1968
Ab den 1960er-Jahren wurden Studentendemonstrationen in Wien zu einem gängigen Mittel politischer Meinungsäußerung. Darin äußerte sich auch die wachsende Stärke linker, antifaschistischer Gruppierungen unter den Studierenden – etwa anlässlich der Borodajkewycz-Affäre 1965 oder anlässlich des Freispruchs von Franz Novak 1966, der in der NS-Zeit als Mitarbeiter von Adolf Eichmann die Deportationen in die Vernichtungslager organisiert hatte. Mit dem 1966 von der ÖVP-Alleinregierung unter Bundeskanzler Josef Klaus verabschiedeten Allgemeinen Hochschulstudiengesetz (AHStG) begann eine Jahre andauernde intensive Universitätsreformdiskussion.
Bei den Hochschülerschaftswahlen im Jänner 1967 verlor der dem CV (Cartellverband) nahestehende Wahlblock die Mehrheit zugunsten der Erfolge von VSStÖ (Verband Sozialistischer Studenten Österreichs) und RFS (Ring Freiheitlicher Studenten). An der Universität Wien, die Ende der 1960er-Jahre etwa 19.000 Studierende verzeichnete, veranstaltete ab 1967 vor allem der VSStÖ Hörsaalbesetzungen und Teach-ins zum Thema Vietnamkrieg und Griechenland, ebenso wie zu gesellschaftspolitischen Tabus im Rahmen der Diskussionsreihe „Sexualität ist nicht pervers“. Studierende traten auch vermehrt gegen autoritäre und rückschrittliche Strukturen an österreichischen Universitäten auf. Im Oktober 1967 fanden in Wien große Demonstrationen gegen die Erhöhung der Studiengebühren und für demokratische Universitätsreformen statt.
Neben Solidaritätskundgebungen für den angeschossenen Rudi Dutschke fanden 1968 auch zahlreiche Demonstrationen zu allgemeinen politischen Themen statt u.a. gegen die Einreise Otto Habsburgs nach Österreich, gegen den Vietnamkrieg sowie die Amtsübernahme des neuen US-Präsidenten Richard Nixon, anlässlich des Besuchs des Schah von Persien in Österreich sowie gegen das autoritäre griechische Regime. Dabei kam es auch wiederholt zu Zusammenstößen mit der Polizei. Konflikte des VSStÖ mit dem SPÖ-Parteivorstand, der der studentischen Protestbewegung kritisch gegenüberstand, wurden etwa bei der Störung des Aufmarschs zum 1. Mai 1968 vor dem Wiener Rathaus durch 200-300 Studierende, die eine politische Diskussion forderten, offensichtlich („Blasmusikrummel“).
Im universitären Bereich forderte die Studierendenbewegung in Wien vor allem mehr Mitbestimmung und Demokratisierung an den Universitäten. Ein Ausdruck davon waren etwa die sich neu etablierenden „Institutsvertreter“ als studienrichtungsspezifische InteressenvertreterInnen, die zu Bedeutungseinbußen der ÖH führten. Auch die ÖSU (Österreichische Studentenunion), die ab Mai 1968 den Platz des Wahlblocks als ÖVP-nahe Fraktion ablöste, erklärte die Hochschulreform zum wichtigsten Anliegen. Hatten bereits 1967 protestierende Studierende die feierliche Inauguration des Rektors Friedrich Schwind für bildungspolitische Proteste genutzt und Unterrichtsminister Theodor Piffl-Perčević mit Tomaten beworfen, führten Tumulte bei der Amtseinführung des Rektors Walther Kraus am 17. Oktober 1968 zur Abschaffung dieser akademischen Tradition. Erst 1991 fand wieder eine feierliche Inauguration (Rektor Alfred Ebenbauer) mit Talaren und Insignien statt.
Insgesamt verlief das Jahr 1968 in Österreich jedoch deutlich ruhiger als in anderen europäischen Ländern.
Teach-in „Kunst und Revolution“
Die aufsehenerregendste Veranstaltung fand am 7. Juni 1968 unter dem Titel „Kunst und Revolution“ im Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes vor 300-500 ZuschauerInnen statt. Nach einem Einleitungsreferat eines Mitglied des SÖS (Sozialistischer Österreichischer Studentenbund), der als Veranstalter fungierte, führten die Wiener Aktionskünstler Günter Brus, Otto Mühl, Peter Weibel, Oswald Wiener und andere eine Kombination aus Aktionslesungen mit Aktionstheater vor. Der radikale Einsatz von Nacktheit, Exkrementen, Erbrechen, Masturbation, Gewalt und Selbstverstümmelung in Verbindung mit der Verwendung von Staatssymbolen sowie des Studentenliedes „Gaudeamus igitur“ brach zahlreiche Tabus und provozierte und schockierte ZuschauerInnen und Presse.
Otto Mühl, Peter Weibel, Oswald Wiener und Franz Kaltenbäck konfrontierten das Publikum mit teils simultan gehaltenen Reden, die u.a. die Kennedy-Familie sowie Finanzminister Stephan Koren verspotteten und die auf Aufforderung des Publikums von Valie Export durch Ein- und Ausschalten des Mikrofons zu Bruchstücken verstümmelt wurden. Günther Brus führte eine „Körperanalyseaktion“ durch, in der er sich nackt u.a. mit einer Rasierklinge schnitt, seinen Urin trank, sich mit Kot beschmierte und masturbierte, während er die Bundeshymne sang. Otto Mühl peitschte den unter dem Pseudonnym "Laurids" auftretenden Malte Olschewski, der sich zum Masochismus bekannte, aus.
Heftige Reaktionen der Öffentlichkeit folgten in den nächsten Tagen und Wochen. Angeheizt von einer negativen öffentlichen Meinungsmache gegen die „Uni-Ferkel“ bzw. „Kulturrevoluzzer“ durch Boulevardzeitungen wie den SPÖ-nahen „Express“ (Michael Jeannée als einer der wenigen anwesenden Journalisten) und die „Kronenzeitung“ wurde die „Uni-Orgie“ zum Skandalereignis des Jahres 1968. Neben Rektor Schwind sowie Studierenden übte auch der SÖS als Veranstalter scharfe Kritik und löste sich wenig später auf. Peter Jirak, Vorsitzender des SÖS, wurde als Studierender offiziell von der Universität Wien relegiert, konnte jedoch später sein Studium dennoch abschließen. Gegen Peter Weibel, zu dieser Zeit ebenfalls Student, wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, welches aus formellen Gründen jedoch gestoppt und nie wieder aufgenommen wurde.
Die Beteiligten Otto Mühl, Günther Brus und Oswald Wiener wurden tags darauf bei der Polizei angezeigt und wenige Tage später in Untersuchungshaft genommen. Zwei Monate später fand der aufsehenerregende Schwurgerichtsprozess am Landesgericht Wien statt, im Zuge dessen der Geisteszustand der drei Angeklagten durch den später durch aktive Mitwirkung in der NS-Euthanasie bekannt gewordenen Psychiater Heinrich Gross begutachtet wurde. Oswald Wiener wurde freigesprochen, Mühl erhielt wegen Körperverletzung vier Wochen Haft und Brus sechs Monate strengen Arrest wegen „Herabwürdigung österreichischer Symbole“ und „Verletzung der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit“.
Folgen der 68er-Bewegung
Das Jahr 1968 in Österreich unterschied sich deutlich von jenen gewaltsamen Ereignissen in anderen Ländern, seine Auswirkungen sind eher als ein längerer Prozess zu sehen. Die 68er-Bewegung hatte weitreichende langfristige Folgen im Sinne eines kulturellen und gesellschaftlichen Aufbruchs. Linke Studierende waren präsenter als zuvor. Zentrale Forderungen der Studierenden nach universitärer Mitbestimmung an der Universität wurden später umgesetzt. Noch 1969 führte die ÖVP-Regierung Klaus Institutskonferenzen und Studienkommissionen mit Drittelparität (Studierende, universitärer Mittelbau, ProfessorInnen) ein.
Der gesellschaftliche Reformdruck führte ab 1970 zu einer Mehrheit und Alleinregierung der SPÖ unter Bundeskanzler Bruno Kreisky, die umfassende Reformen in den Bereichen Justiz, Soziales, Familien- und Strafrecht, Bildung und Hochschulen einleitete. Kreisky, der 1968 noch umfassende Kritik an den Demonstrationen und Provokationen der „linksradikalen“ Studierenden geübt hatte, griff Forderungen der Studierenden und des Mittelbaus nach Mitbestimmung, Demokratisierung und Öffnung auf. Durch das 1975 beschlossene Universitätsorganisationsgesetz (UOG) wurden AssistentInnen, DozentInnen, Studierende sowie das allgemeine Universitätspersonal neben den ProfessorInnen nun auch im Senat sowie in Fakultätsgremien in Entscheidungsprozesse eingebunden.
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Last edited: 03/27/24