Richard Johann Kuhn, Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c.

3.12.1900 – 31.7.1967
geb. in Wien, Österreich gest. in Heidelberg, Deutschland

Nobelpreisträger 1938

Ehrungen

Ehrung Titel Datierung Fakultät
Ehrendoktorat Dr. phil. h.c. 1960/61 Philosophische Fakultät

Die Ehrung wird 2022/23 aufgrund von Richard Kuhns Involvierung in den Nationalsozialismus als „problematisch“ eingestuft. Kuhn, der nie NSDAP-Mitglied war, verfolgte ab 1933 eine diskriminierende und denunziatorische Politik gegenüber jüdischen Mitarbeitenden in der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“, dessen Leiter er 1937 wurde. Durch seine wissenschaftliche Arbeit zur Gift- und Kampfgasforschung stand er indirekt im Zusammenhang mit Menschenversuchen unter anderem an KZ-Häftlingen, über die er informiert war.

Richard Kuhn begann seine wissenschaftliche Karriere in München und an der ETH Zürich, verlegte später seinen Lebensmittelpunkt nach Heidelberg. Dort wurde er 1929 Abteilungsleiter am „Kaiser-Wilhelm-Institut für Medizinische Forschung“ und 1937 dessen Direktor. Kuhn erhielt 1938 den Nobelpreis in Chemie für seine Arbeiten über Vitamine, konnte ihn aber erst 1948 entgegennehmen. Die Philosophische Fakultät der Universität Wien verlieh Richard Kuhn am 13. Dezember 1960 das Ehrendoktorat.

Anlass zu Kritik gab in den Forschungen der vergangenen Jahre erstens Kuhns denunziatorisches Verhalten in der NS-Zeit gegenüber jüdischen Mitarbeitern der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“, zweitens seine überdurchschnittliche Begeisterung für und sein aktives Mittragen des NS-Regimes und drittens seine Arbeit in der Gift- und Kampfgasforschung, die ihn auch in näheren Zusammenhang mit Versuchen an KZ-Häftlingen brachte. In der einschlägigen Literatur zur NS-Vernichtungsforschung gilt Kuhn stets als einer der zentralen Protagonisten im Bereich Chemie, der mit seinen Forschungen den Bedürfnissen des NS-Regimes im überdurchschnittlichen Maße zugearbeitet hat. Die Memorialisierung in Heidelberg hat zwar noch keine Änderung an der nach ihm benannten Straße ergeben, im Universitätsmuseum wurde jedoch eine Gedenktafel mit einem kritischen Vermerk zu seiner offenen Begeisterung für das NS-Regime angebracht. 2005 wurde die Vergabe der von der BASF gestifteten „Richard-Kuhn-Medaille“ eingestellt. Im Auftrag der Stadt Wien untersuchte eine Historiker*innen-Kommission von 2011 bis 2013 die historische Bedeutung jener Persönlichkeiten, nach denen Wiener Straßen benannt sind. Aufgrund der daraus gewonnenen Erkenntnisse zur historischen Einordnung von Richard Kuhn wurde die 1973 erfolgte Benennung des Richard-Kuhn-Weges als „Fall mit intensivem Diskussionsbedarf“ eingeordnet. Am 4. Dezember 2018 beschloss der Gemeinderatsausschuss für Kultur und Wissenschaft die Umbenennung der Verkehrsfläche in „Stadt-des-Kindes-Weg“.

1933 entließ Kuhn seine jüdischen Mitarbeiter*innen. 1936 denunzierte er seinen „nichtarischen“ Kollegen Otto Meyerhof bei der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“, weil dieser – im Gegensatz zu Kuhn selbst – nach wie vor „jüdische“ Mitarbeiterinnen beschäftigte. Meyerhof musste wenig später selbst emigrieren.

„Ich habe Herrn Prof. Meyerhof seinerzeit erklärt, daß ich nicht beabsichtige, eine Kontrolle über die Auswahl seiner Mitarbeiter auszuüben. Dies gelte aber nur unter der Voraussetzung, daß er in jedem Falle ordnungsgemäß ausgefüllte Fragebogen an die Generalverwaltung nach Berlin einsende. Angeblich sind zur Zeit bei Herrn Prof. Meyerhof wieder 3 Personen nicht-arischer Abstammung im Institut beschäftigt.“
(Richard Kuhn, 27.4.1936, an F. Glum, Archiv der MPG, Abt. 1, Rep. IA 540/2. Zitiert nach: Deichmann, 76.)

Deichmann sieht Kuhns denunziatorisches Verhalten in dessen Bestreben begründet, nicht den kleinsten Nachteil für sich oder einen schlechten Ruf seines Instituts zu riskieren. Als Kuhn 1945 den im amerikanischen Exil lebenden Meyerhof fragte, ob er Interesse hätte, an das Institut nach Heidelberg zurückzukommen, gab Meyerhof, obwohl er nichts von Kuhns Schuld an der sofortigen Entlassung seiner letzten drei „nicht-arischen“ Mitarbeiter wusste, in einem nie abgesendeten Antwortschreiben seine persönliche Enttäuschung über Kuhns opportunistisches und den NS-Terror förderndes Verhalten zum Ausdruck:

„Ich habe für den Verlust meiner alten Arbeitsstätte, meines ganzen Besitzes und zeitweilig ernster Gefährdung meiner Existenz nun wenigstens die Vorteile der Freiheit und Selbstbestimmung eingetauscht, während Sie die Zeit in gesicherter Stellung und Arbeitsfähigkeit, aber in der moralischen Stickluft des dritten Reiches verbrachten. Dies allein trennt uns nicht, und ich mache niemandem einen Vorwurf, daß er Kompromisse machte, um Amt und Arbeitsstätte zu erhalten. Sie selbst aber sind weit darüber hinaus gegangen. Ich kann die Kritik nicht verschweigen, die von den Kollegen der alliierten Länder an Ihnen geübt wird, daß sie Ihre bewundernswürdige wissenschaftliche Leistung und chemische Meisterschaft freiwillig in den Dienst eines Regimes gestellt haben, dessen unaussprechliche Abscheulichkeit und Verruchtheit Ihnen wohl bewußt war. Dies war mir selbst besonders schmerzlich, weil ich wußte, in welchem liberalen Geist sie aufgewachsen waren.“
(Letter from Otto Meyerhof to Richard Kuhn, 1.11.1945; Otto Meyerhof Papers, UPT 50 M 613, Box 1, Folder 27. University of Pennsylvania Archives, Philadelphia, PA)

1900 in Wien geboren, behielt Kuhn auch immer die österreichische Staatsbürgerschaft. Er machte eine herausragend steile Karriere in Deutschland, trat aber nie der NSDAP bei. Ebbinghaus und Roth sehen einen kausalen Zusammenhang zwischen Kuhns Staatsbürgerschaft und der fehlenden Notwendigkeit, in Deutschland der Partei beizutreten. Als Mitarbeiter der Sparte Chemie des „NS-Bundes Deutscher Technik“ war Kuhn jedoch immer gesamtdeutsch und deutschnational eingestellt. Nach seiner Fronterfahrung im Ersten Weltkrieg agierte er als Freiwilliger in der Niederschlagung der Räterepublik in München. Die ideologische Ausrichtung seiner Rede an der Technischen Hochschule war durchwegs deutschnational geprägt. Er war ein begeisterter Befürworter des „Anschlusses“ und mit seiner machtpolitisch-visionären Rhetorik, argumentieren Ebbinghaus und Roth, im Vergleich überzeugter als etwa sein Kollege Adolf Butenandt. 1937 wurde Kuhn Direktor des „Kaiser-Wilhelm-Institutes“, 1938 „Führer“ der „Deutschen Chemischen Gesellschaft“. Im selben Jahr erhielt er den Nobelpreis. 1940 wurde er Fachspartenleiter für Organische Chemie der DFG, 1944 außerdem wissenschaftlicher Beirat Karl Brandts, des „Generalkommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen“.

In einer viel zitierten Festrede zum 75-jährigen Bestehen der „Deutschen Chemischen Gesellschaft“ am 5. Dezember 1942 schloss er mit. Den Worten: „Dem Duce, dem Tenno und unserem Führer ein dreifaches Sieg Heil!“ (Kuhn, 200) Dies stellt den Gipfel seines wissenschaftlichen und machtpolitischen Bekennertums dar: Hitler bezeichnete er darin als Architekten des auch von der deutschen Chemiewissenschaft immer betriebenen „Zusammenschlusses aller Deutschen“, der diese nun „allumfassend zum Siege geführt“ hat. Die Deutsche Chemische Gesellschaft sei, so Kuhn, „wahrhaft deutsch“, nämlich „treu, beharrlich und gründlich“. Ziel sei es daher, „Fortschritte chemischer Erkenntnis in gemeinnütziger Weise dem deutschen Volk in seiner Gesamtheit zugutekommen“ zu lassen. (Kuhn, 147–149) Die „Völker des Abendlandes“ hätten ihre Grundlagen geschaffen und aufgebaut – nun sei „die Chemie zu einem Machtfaktor auf unserer Erde aufgestiegen. […] Um den Fortbestand dieses Blutes, um die Weiterentwicklung dieser ihrer Kultur stehen die Völker Europas heute unter den Waffen, genauso wie die des alten ostasiatischen Kulturraumes für den ihrigen. Wir gedenken der Männer, in deren Hand das gemeinsame Schicksal liegt: Dem Duce, dem Tenno und unserem Führer ein dreifaches Sieg Heil!“ (Kuhn, 200)

Wie Ebbinghaus und Roth ausführen, lieferte Kuhn in dieser Rede, die im Grundbestreben durchaus seinen wissenschaftlichen Agitationen entspricht, Begründungen für eine wissenschaftliche Teilhabe am deutschen Weltanspruch. Er definierte dadurch die Rahmenbedingungen für die Überschreitung ethischer und humanitärer Normen, was wiederum die Grundlage und den Hintergrund seiner erfolgreichen Forschung an chemischen Massenvernichtungswaffen und biowissenschaftlichen „Verbrechen“ liefert. Deichmann beschreibt Kuhn als ein Beispiel für einen hervorragenden Wissenschaftler, der „aus Nationalismus und Opportunismus bereit war, seine Forschung und sein Organisationstalent in den Dienst des Nationalsozialismus“ (Deichmann, 14) zu stellen.
Die Deutsche Chemische Gesellschaft hat es in meisterhafter Weise verstanden, die Waffen, die unsere Forscher in diesem Kampf brauchen, zu schmieden und scharf zu halten.“ (Kuhn, 160)

Anlass zur Kritik gab weiters Kuhns Rolle in unethischen, inhumanen Forschungen. Seit 1943 war er an der Nervengasforschung beteiligt und erfand das Giftgas „Soman“. Er war nicht nur über die Menschenversuche von NS-Wissenschaftlern informiert. Am 27. Jänner 1944 nahm Kuhn an einer Mycel-Tagung im Rüstungsministerium teil, wo unter anderem über Versuche berichtet wurde, KZ-Häftlinge mit diesem Zelluloseabfallprodukt zu ernähren: „Der Versuch, der zur Zeit läuft, ist ein Großversuch für ¼ Jahr in einem KZ-Lager, 100000 Gefangene erhalten täglich 50 g Mycel.“ (BDC Ding-Schuler. Zitiert nach Klee, 351)

Hauptkritik an Kuhns Forschungen während der NS-Zeit ist dessen uneingeschränktes Andienen an ein verbrecherisches politisches System. Er wird von Expertlnnen als einer der wenigen Wissenschaftler der NS-Vernichtungsforschung dargestellt, der nach 1945 keine Konsequenzen für sein gewissenloses Handeln erfuhr, da er sich mit seinem Wissen in der Seuchen- und Krankheitsbekämpfung umgehend den Amerikanern anbot und daraufhin schon bald wieder in sein Büro in Heidelberg zurückkehren konnte. Ebbinghaus und Roth kritisieren an Kuhn speziell, dass er bis zuletzt uneinsichtig in Bezug auf die politische Instrumentalisierung der chemischen Forschung war; in seinen Augen sollte Wissenschaft ethikfrei sein und demnach nicht humanitären Grundsätzen, sondern primär der Politik dienen.

Bundesarchiv Berlin, NSDAP Mitgliederverzeichnis – Ortskartei ,3200/M 0046.
Bundesarchiv Berlin, R 73/12507. Zitiert nach: Klee, 350-351.
University of Pennsylvania Archives, Philadelphia, PA: Otto Meyerhof Papers, UPT 50 M613, Box 1, Folder 27.

Birgit Nemec

Zuletzt aktualisiert am 04.04.2024 - 20:39

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