Muriel Gardiner Buttinger, Dr. med.
Muriel GARDINER (geb. MORRIS, verh. BUTTINGER), geborene Amerikanerin, kam 1926 nach Wien um Psychoanalyse und Medizin zu studieren und das "Rote Wien" zu unterstützen. Sie kämpfte im Widerstand gegen Austrofaschismus und Nationalsozialismus für Demokratie und Freiheit.
- Medizin
- Psychoanalyse
Muriel Morris wurde 1901 als Tochter eines reichen Fleischverarbeitungsmagnaten in Chicago/USA geboren. Sie studierte bis 1922 am Wellesley College in Massachusetts und ging darauf für ein Auslandsjahr nach Rom. Später studierte sie in Oxford Literatur und kam nach einer kurzen Ehe 1926 nach Wien, um sich von Sigmund Freud analysieren zu lassen. Dieser vermittelte sie weiter an seine Schülerin, die Amerikanerin Ruth Mack Brunswick. Nach ihrer Psychoanalyse, einer weiteren kurzen Ehe mit dem Engländer Julian Gardiner, der in Wien Musik studierte, und der Geburt ihrer Tochter blieb sie als Alleinerzieherin in Wien und nahm eine Lehranalyse auf, um selbst Psychoanalytikerin zu werden. Sie begann deshalb 1932 ein Medizinstudium an der Universität Wien, um später auch in den USA als Psychoanalytikerin arbeiten zu können. Obwohl aus reichem Hause stammend, war sie überzeugte Sozialistin und schloss sich, fasziniert von den sozialen Errungenschaften des "Roten Wien", nach der Ausschaltung der Demokratie durch den Austrofaschismus in Wien 1934 der sozialistischen Untergrundbewegung an und traf hier auf ihren späteren Ehemann, den Leiter der Revolutionären Sozialisten, Joseph Buttinger. Muriel Gardiner arbeitete unter dem Decknamen "Mary" im antifaschistischen Widerstand, stellte ihre beiden Wohnungen (vor allem jene in der Lammgasse 8) und ihr abgelegenes Ferienhaus in Sulz im Wienerwald für konspirative Treffen zur Verfügung und verhalf vor und nach dem "Anschluß" unter Einsatz ihres Lebens zahlreichen politisch und/oder "rassisch" Verfolgten mit Geld, Bürgschaften und falschen Pässen zur Flucht. Muriel Gardiner hatte 1937 ihre psychoanalytische Lehranalyse in Wien abgeschlossen und trieb ihr Medizinstudium voran. Sie blieb nach dem "Anschluß" trotz zunehmender Gefahr noch in Wien und schloss im Juni 1938 ihr Studium trotz zahlreicher Schikanen mit der Promotion zur Dr. med. univ. ab. Sie war aufgrund der langen Widerstandstätigkeit selbst gefährdet und galt, obwohl konfessionslose Amerikanerin, im NS-Staat als "jüdischer Mischling".
"Es wäre nahe gelegen, daß sie aus Vorsicht und zum Schutz ihrer jungen Tochter dem Beispiel vieler anderer Amerikaner folgte, die nicht zögerten in ihre Heimat zurückzukehren (...). Trotzdem und wider alle Vernunft blieb sie, scheinbar um ihr Medizinstudium zu beenden, vor allem aber, um politischen Mitarbeitern ihrer Freunde zu helfen. Ihre Hilfsbereitschaft und Anteilnahme breitete sich schließlich von den Freunden zu den Freunden der Freunde aus, (...) bis sie schließlich von unzählbar vielen potentiellen Opfern umgeben war, für die sie eine letzte Möglichkeit der Rettung bedeutete." (Anna Freud im Vorwort zu Gardiners Autobiografie).
Bald nach ihrer Promotion verließ sie Österreich und ging nach Paris, wo sie den bereits dorthin geflüchteten Joseph Buttinger heiratete. Gemeinsam emigrierten sie nach Kriegsausbruch 1939 in die USA und waren beide lange Jahre in der Flüchtlingshilfe aktiv. Ihr Ehemann arbeitete in den 1950er Jahren vor allem für Vietnam-Flüchtlinge und galt, obwohl er keine Hochschulbildung hatte, als einer der besten Historiker des Vietnam-Krieges. Muriel Gardiner arbeitete als Ärztin, Autorin und Psychoanalytikerin in den USA und wurde u. a. durch ihre Aufarbeitung von Sigmund Freuds berühmten Fall des "Wolfsmannes" über infantile Neurosen bekannt. Bereits 1978 publizierte sie gemeinsam mit Joseph Buttinger eine erste politische Autobiografie: "Damit wir nicht vergessen - Unsere Jahre 1934 bis 1947 in Wien, Paris und New York", aber erst 1983 veröffentlichte sie ihre persönlichen Erinnerungen unter dem Titel "Code Name 'Mary'. Memoirs of an American Woman in the Austrian Underground." Ihre Biografie ist auch mit der der amerikanischen Schriftstellerin Lillian Hellman verknüpft. 1973 veröffentlichte Hellman den Memoirenband "Pentimento", dessen berühmtestes Kapitel "Julia" erfolgreich mit Jane Fonda und Vanessa Redgrave verfilmt wurde. Die Geschichte basiert, ohne dies zu deklarieren, auf Teilen der Biografie Muriel Gardiners, die Hellman mit frei erfundenen Aussagen über ihr eigenes Leben verknüpfte. Dieser ungewöhnliche Fall von "appropriation of biography" war später in Amerika auch Gegenstand eines Aufsehen erregenden Schadensersatzprozesses, an dem sich Muriel Gardiner aber nicht beteiligte.
Joseph Buttinger schenkte 1971 seine ca. 50.000 Bände umfassende sozialpolitische Privatbibliothek der damals erst in Planung befindlichen Universität in Klagenfurt als Grundstock zur Universitätsbibliothek. Er wurde später zum ersten Ehrendoktor der neuen Universität ernannt und war zuvor bereits mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet worden. Muriel Gardiner erhielt 1980 das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Forschung I. Klasse, und 1989 wurde in Wien-Favoriten der Muriel-Gardiner-Buttinger-Platz nach ihr benannt.
Sie starb 1985 in Pennington, New Jersey/USA.
2023/24 kuratierte die Universität Wien gemeinsam mit dem Freud Museum London die Ausstellung "Code Name 'Mary': Das ungewöhnliche Leben von Muriel Gardiner", die an sie und Ihre Leistungen erinnerte.
Zuletzt aktualisiert am 17.04.2024 - 20:12