Studentisches Korporationswesen im 19. und 20. Jahrhundert

19th Cent.–20th Cent.

Studentische Verbindungen völkischer wie auch katholischer Provenienz haben an der Universität Wien eine – für österreichische Verhältnisse – lange Geschichte. Durch selbige zieht sich wie ein roter Faden ihre Rolle als Akteure wie auch als Gegenstand politischer Kontroversen.

In Preußen werden schon Ende des 18. Jahrhunderts Corps gegründet, 1815 konstituiert sich in Jena die sogenannte Urburschenschaft und in weiterer Folge bildet sich zügig ein differenziertes Verbindungswesen aus. Vergleichsweise entstehen im Habsburger Reich studentische Korporationen in der bis heute bestehenden Form an den Universitäten erst vergleichsweise spät. Die insbesondere in Burschenschafterkreisen vertretenen proto-demokratischen und bürgerrechtlichen Bestrebungen machen dem repressiven Metternich-Regime studentische Zusammenschlüsse suspekt und führen zur polizeilichen Verfolgung erster Ansätze klandestiner Verbindungsgründungen im Vormärz. In den liberalen und deutschnationalen Forderungen der gerade in Wien stark von Studenten getragenen Revolte von 1848 spiegeln sich auch zentrale Anliegen der frühen deutschen Burschenschafterbewegung wider. Das Scheitern der 1848er und die darauf folgende Repression lassen weitere Jahre verstreichen, ehe es zur ersten tatsächlichen Gründungswelle studentischer Verbindungen (Burschenschaften, Corps, Landsmannschaften etc.) in Wien kommt. Einige der ab Ende der 1850er Jahre in rascher Abfolge errichteten Korporationen haben noch heute Bestand. Anders als im Deutschen Reich stehen vor allem die Burschenschaften weiterhin in einem konflikthaften Verhältnis zum Herrscherhaus. Verantwortlich dafür sind nunmehr weniger demokratische und bürgerrechtliche Erwägungen – die Niederlage von 1848 hat dahingehenden Elan nachhaltig erlahmen lassen –, als eine zunehmende Hinwendung zum preußischen (protestantischen) Rivalen der Habsburger, der 1866 über letztere und 1870/71 über Frankreich militärisch triumphiert. Das mächtige Preußen möge, so die Erwartung einer wachsenden Mehrheit der Verbindungsstudenten, als deutsche Führungsmacht den verbindungsstudentischen Wunsch nach nationaler Einigung verwirklichen.

Illiberale Wende und Antisemitismus

Eine solche Einigung wird 1871 mit der deutschen Reichsgründung ohne die Beteiligung Österreichs vollzogen. Die Kränkung über diesen „Ausschluss aus Deutschland“ wird von vielen Verbindungen mit ideologischer Verhärtung beantwortet: das eigene Deutschtum erfährt, auch im Kontext des Vielvölkerstaats, seiner konkurrierenden Nationalismen und der österreichischen „Grenzlandlage“ im deutschen Sprachraum, nun umso fanatischere Betonung. In jenem Maße, in dem der völkische (biologistisch grundierte) Nationalismus in den Vordergrund tritt und liberale Traditionsstränge gekappt werden, besinnt man sich des antisemitischen Erbes der burschenschaftlichen Gründerzeit, das mit Namen wie Friedrich Ludwig Jahn verknüpft ist. In der Billroth-Affäre“ von 1875 scharen die völkischen Verbindungsstudenten sich um den gleichnamigen Chirurgen der Universität Wien, so wie sie 1892 gegen den Internisten Hermann Nothnagel, einen Gegner des Antisemitismus, mobilisieren sollten. Unter dem Einfluss Georg von Schönerers avancieren die „wehrhaften Vereine“ bzw. Vereine deutscher Studenten (ein ab den 1880er Jahren auftretender Korporationstyp) und Burschenschaften zu Pionieren des Rassenantisemitismus auf Hochschulboden und darüber hinaus. Bereits im Studienjahr 1878/79 setzt die Wiener Burschenschaft Libertas einen „Arierparagraphen“ in Kraft, viele Verbindungen tun es ihr in den Folgejahren gleich. In einem weiteren Schritt wird jüdischen Studenten die „Ehre“ und somit auch die „Satisfaktionsfähigkeit“ abgesprochen. Wegweisend dafür ist ein 1896 in Wien gefasster Beschluss der im Waidhofener Verband zusammengeschlossenen, überwiegend Wiener wehrhaften Vereine. Die meisten Wiener Burschenschaften und andere Verbindungen aus allen österreichischen Hochschulstädten übernehmen in weiterer Folge das „Waidhofener Prinzip“. Stimmen, die unter Berufung auf liberale und tolerante Traditionen im Verbindungsstudententum gegen den um sich greifenden Antisemitismus opponierten, bleiben in der Minderheit und sehen sich zunehmend marginalisiert.

Akademischer Kulturkampf

Neben Juden werden von den völkischen Verbindungsstudenten auch slawische und italienische Studierende, oft unter Einsatz physischer Gewalt, als „volksfremd“ bekämpft. Daneben ziehen auch Linke sowie die katholischen Verbindungen (ab 1859 in Innsbruck, ab 1876 in Wien) die Aggression der „Schlagenden“ auf sich. Die Auseinandersetzungen innerhalb des Studentenverbindungswesens entspinnen sich vor dem Hintergrund einer größeren politisch-kulturellen Konfliktkonstellation: jener zwischen dem deutsch-völkisch, pro-preußisch, protestantisch-„freiheitlich“ (wenn auch kaum mehr liberal) orientierten Lager auf der einen Seite und dem deutsch-österreichischen, Habsburg-loyalen, katholisch-konservativen auf der anderen. Auch divergierende Auffassungen von Wissenschaftlichkeit und akademischer Freiheit treffen dabei aufeinander. Um die Jahrhundertwende gewinnt der „Kulturkampf“ – in Graz stärker noch als in Wien – an Schärfe. Seinen Höhepunkt findet er in der „Wahrmund-Affäre“ von 1907/08, in der die Auseinandersetzung um die Rolle des Katholizismus an den Hochschulen bis auf höchste politische Ebene ausstrahlt. Das gemeinsame Fronterlebnis im Ersten Weltkrieg sorgt nur kurzzeitig für eine Annäherung zwischen den verfeindeten Lagern. Geeint trat man in den 1920er Jahren im Rahmen der studentischen Selbstverwaltung (Deutsche Studentenschaft) auf – in gemeinsamer Abwehrhaltung gegen jüdische, linke und liberale KommilitonInnen.

Faschismen und Zweiter Weltkrieg

Sowohl die katholischen als auch die völkischen Männerbünde werden Mitte des 20. Jahrhunderts zu tragenden Säulen von Diktaturen. Viele katholische Korporierte nehmen wichtige Positionen im autoritären Ständestaat Engelbert Dollfuß‘ und Kurt Schuschniggs (beide selbst Cartellverbands-Angehörige) ein. Einige begeistern sich in weiterer Folge für den Nationalsozialismus, andere werden vom NS-Regime verfolgt und/oder leisten diesem organisierten Widerstand. Die völkischen Korporierten wiederum stehen 1938 fast geschlossen im Lager der Verfolger. Ihr rabiater Antisemitismus und unbedingter Deutschnationalismus hatten sie bereits früh ins nationalsozialistische Lager geführt, an den Hochschulen hatten sie seit Anfang der 1930er Jahren emsige Wühlarbeit geleistet. Nach dem „Anschluss“ werden sämtliche Studentenverbindungen aufgelöst, die völkischen dürfen sich in Anerkennung ihrer Verdienste im Rahmen des NS-Studentenbundes neu organisieren. Unter den drei nationalsozialistischen Rektoren der Universität Wien befinden sich mit Eduard Pernkopf und Viktor Christian zwei Burschenschafter.

Restauration und Bedeutungsverlust nach 1945

Das katholische Verbindungswesen konstituiert sich bereits unmittelbar nach Kriegsende neu, den völkischen Verbindungen gelingt eine formale Restauration vor dem Hintergrund der gescheiterten Entnazifizierungspolitik ab Anfang der 1950er Jahre. Im Windschatten der Katholiken erhalten auch sie wieder die Bewilligung für Veranstaltungen und für das Auftreten „in Farben“ auf Hochschulboden. Die Kräfteverhältnisse haben sich nun umgekehrt: die „Schlagenden“ befinden sich in der Minderheit und nehmen als solche von physischen Aggressionen gegen Katholiken weitgehend Abstand. In der Studierendenpolitik etablieren sie sich über den Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) als langjährig zweitstärkste Kraft. Ein rasanter Bedeutungsschwund setzt um 1970 ein. Der starke Anstieg der Studierendenzahlen und die innere Diversifizierung der Studierendenpopulation (nicht zuletzt in Form eines wachsenden Frauenanteils) lassen das Verbindungswesen insgesamt zur universitären Randerscheinung verkommen. Insbesondere sein völkischer Sektor wird – als Bannerträger des Deutschnationalismus in der Zweiten Republik mit diffusem Verhältnis zur NS-Vergangenheit – zunehmend als anachronistisch wahrgenommen. Neben vermehrtem Gegenwind durch linke AntifaschistInnen (früh etwa im Rahmen der Borodajkewycz-Affäre von 1965) hatten sie in jüngerer Vergangenheit auch ein wachsendes Distanzbedürfnis von Seiten der akademischen Behörden zu gewärtigen. Dieses fand Niederschlag u. a. in der Verbannung des wöchentlichen „Farbenbummels“ des Wiener Korporationsrings (WKR) von der Aula auf die Rampe der Universität Wien oder in der Verlegung und Umgestaltung des „Siegfriedskopfes“ im Jahr 2006.