Karl Renner, Dr.

14.12.1870 – 31.12.1950
geb. in Untertannowitz [Dolní Dunajovice], Mähren, Tschechische Republik gest. in Wien, Österreich

Staatskanzler, Bundespräsident, Schriftsteller

Ehrungen

Ehrung Titel Datierung Fakultät
Ehrendoktorat Dr. rer. pol. h.c. 1945/46 Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät

Eigentlich sollte Karl Renner ein goldenes Doktordiplom zur 50. Wiederkehr seiner Promotion verliehen werden – dies beruhte jedoch auf einem Irrtum beim Promotionsjahr. Daraufhin beschloss die Universität Wien kurzfristig, ihm stattdessen für seine Verdienste um die zweimalige Errichtung der Republik (1918 und 1945) am 27. Oktober 1945 das erste Ehrendoktorat in der Zweiten Republik zu verleihen.

Der 1870 in Mähren in armen Verhältnissen geborene Karl Renner studierte nach der Matura am Gymnasium in Nikolsburg [Mikulov] an der Universität Wien 1889–1994 Rechtswissenschaften und promovierte 1898 zum Dr. jur.

Er wurde zum führenden sozialdemokratischen Politiker und sozialistischen Theoretiker, arbeitete 1895–1918 in der Reichsratsbibliothek (ab 1909 als Direktor) und verfasste zahlreiche bedeutende politische Schriften.

Renner war 1907–1918 Mitglied des Abgeordnetenhauses und des niederösterreichischen Landtags. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zusammenbruch der Monarchie wurde er 1918 zum Ersten Staatskanzler der Republik (Deutsch-)Österreich gewählt und leitete 1919 die österreichische Delegation bei den Friedensverhandlungen in Saint-Germain. Er war 1919 auch Staatssekretär des Innern und 1919–1920 Staatssekretär des Äußeren.

Im Oktober 1920 schied Renner mit allen anderen Sozialdemokraten aus der Regierung aus, blieb aber noch bis 1923 Nationalratsabgeordneter.
Er war 1923–1926 Präsident der Arbeiterbank in Wien, 1926–1934 Präsident der Großeinkaufsgesellschaft der österreichischen Konsumvereine, Vorstandsmitglied der Sozialdemokratischen Parteileitung und 1931–1933 Nationalratspräsident.

Im Austrofaschismus wurde Karl Renner im Bürgerkrieg des Februar 1934 verhaftet und es wurde ein Hochverratsverfahren gegen ihn eröffnet. Nach mehreren Monaten Haft wurde er ohne Verurteilung und ohne Entschädigung wieder freigelassen und zog sich politisch zurück.

Während des Nationalsozialismus lebte er 1938–1945, obwohl prominenter Sozialdemokrat, weitgehend unbehelligt in Gloggnitz/NÖ, wo er sich rechtswissenschaftlichen, soziologischen und schriftstellerischen Arbeiten widmete.

Im April 1945 nahm er mit dem Kommando der heranrückenden Sowjetarmee Verhandlungen auf, die am 27. April 1945 zu einer provisorischen Staatsregierung unter Renner als Staatskanzler führten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung von der NS-Diktatur die Republik Österreich wiederbegründete und nach anfänglicher Skepsis von allen vier alliierten Besatzungsmächten anerkannt wurde. Dies gilt als hervorragende politische Leistung Renners.
Nach den ersten Nationalratswahlen der Zweiten Republik im November 1945 wurde Renner am 20. Dezember 1945 von der Bundesversammlung zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt, was er bis zu seinem Tode am 31. Dezember 1950 blieb.

Ehrungen:

  • Ehrendoktorat der Universität Wien (1945)
  • Benennung Dr.-Karl-Renner-Brücke in Gloggnitz (1945)
  • Ehrenmitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (1947)
  • Ehrenbürger der Stadt Wien (1948)
  • Stiftung Dr.-Karl-Renner-Preis der Stadt Wien (1951)
  • Benennung Dr.-Karl-Renner-Ring (1956)
  • Stiftung Dr.-Karl-Renner-Publizistikpreis (1964)
  • Dr.-Karl-Renner-Denkmal (von Alfred Hrdlicka) neben dem Parlament (1967)
  • Benennung der Politischen Akademie der SPÖ in Karl-Renner-Institut (1972)
  • Benennung Dr.-Karl-Renner-Straße in Salzburg (1974)
  • Errichtung Dr.-Karl-Renner-Museum in seiner ehemaligen Villa in Gloggnitz (1979)
  • Gedenktafel an seinem ehemaligen Wohnhaus (1918–1934) in Wien 2. Praterstr. 8 (1986)

Diskussionswürdige Aspekte

Aus heutiger Sicht treten neben die unbestreitbaren politischen Leistungen Renners auch mehrere diskussionswürdige und umstrittene Aspekte seiner Biografie:

  • 2012/13 gab es eine mediale Diskussion um Renners Aussagen im Nationalrat 1920/21: Er bediente sich in einer Debatte selbst antisemitischer Stereotype, um gegen die antisemitische Politik von Leopold Kunschak zu polemisieren und den Antisemitismus von Karl Lueger und Kunschak zu kritisieren, die daraus den Kern ihrer Weltanschauung und ein umfassendes politisches Programm gemacht hatten. Eine kritische Analyse der Kontexte und zeitgenössischen Rezeption dieser Rede führten 2013 letztendlich aber nicht wie intendiert zur Umbenennung des nach ihm benannten Renner-Rings vor dem Parlament.
  • Diskussionswürdig ist auch seine Rolle in der Parlamentssitzung vom 4. März 1933, die die letzte der Ersten Republik werden sollte: Karl Renner legte während der Sitzung sein Amt als Nationalratspräsident auf Wunsch seiner Partei nieder, um in einer sehr knappen Kampfabstimmung im Plenum mitstimmen zu können. Nachdem auch der Zweite und Dritte NR-Präsident seinem Beispiel folgten, um mit ihren Fraktionen mitstimmen zu können, nutzte der christlich-soziale Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß diese Geschäftsordnungskrise, um das Parlament gänzlich auszuschalten und eine ständestaatliche/austrofaschistische Diktatur zu errichten.
  • Diskussionswürdig ist auch, dass Renner 1938 seinem tiefgreifenden Deutschnationalismus und seinem Ehrgeiz, nach Jahren des Verbots nach 1934 wieder im öffentlichen Rampenlicht zu stehen, nachgegeben und in einem Interview im „Neuen Wiener Tagblatt“ am 3. April 1938 apodiktisch erklärt hat: „Als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, als erster Kanzler der Republik Deutschösterreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation zu Saint-Germain werde ich mit Ja stimmen.“ (Neues Wiener Tagblatt, 3.4.1938) Zwar versuchte er dann in dem Londoner Magazin „World Review“ unter der Schlagzeile „Why I voted ‚Ja‘“ zumindest darauf hinzuweisen, dass er zwar nach wie vor für den „Anschluss“ eintrete, aber gezwungen sei, sich dadurch einer Diktatur zu unterwerfen. (World Review, 22.–27.6.1938). Seinem persönlichen Ansehen hat er damit nachhaltig geschadet, da diese Nachricht bis zu den Inhaftierten im Konzentrationslager Dachau drang und entsprechend tragisch und demoralisierend empfunden wurde, ähnlich wie die „feierliche Erklärung“ des Erzbischofs von Wien Kardinal Theodor Innitzer, der am 18. März 1938 gemeinsam mit seinen Amtsbrüdern ebenso den „Anschluss“ Österreichs befürwortete.
  • Als diskussionswürdig zu beurteilen ist auch Renners deutschnationale und revisionistische Schrift „Die Gründung der Republik Deutschösterreich, der Anschluss und die Sudetendeutschen. Dokumente eines Kampfes ums Recht“ vom Sommer 1938, in der er massiv die Integration der deutschsprachigen Gebiete Böhmens und Mährens 1918/19 in die demokratische Tschechoslowakei verurteilte bzw. das „Münchner Abkommen“ vom 29. September 1938 mit der Annexion der sudetendeutschen Gebiete begrüßte. Das Buch wurde 1938 nicht mehr publiziert, da es von den Ereignissen überholt wurde, und erst 1990 kommentiert herausgebracht.
  • Diskussionswürdig ist auch sein repressiver Umgang mit Holocaustüberlebenden und jüdischen Remigrant*innen nach 1945. In der Deklaration der Provisorischen Staatsregierung Renner vom 27. April 1945 vermied er nicht nur jede genaue Benennung der Opfer – im Konkreten der Jüdinnen und Juden –, sondern forcierte die „Opferthese“ Österreichs, die den Anteil der Österreicher*innen als Täter*innen hinter der Alleinverantwortung der „Reichsdeutschen“ und illegalen Nationalsozialisten verschwinden ließ. Er fokussiert auf die Wiedererrichtung Österreichs in den Grenzen von 1918 und auf die Abwendung der (Schuld- und) Reparationsfrage, um den Preis der Verhinderung einer umfassenden antifaschistischen und antinationalsozialistischen Diskussion und Aufklärung. Eine Entschädigung enteigneter Jüdinnen und Juden sah er als Gefahr für den wirtschaftlichen Wiederaufbau an, plädierte vielmehr für eine umfassende Verstaatlichung enteigneten Kapitals und sprach sich gegen eine Rückholung vertriebener jüdischer Österreicher*innen aus.

Die Historiker*innenkommission zur Aufarbeitung der Wiener Straßennamen stufte Karl Renner 2013/14 als „Fall mit Diskussionsbedarf“ ein, plädierte aber nicht für eine Umbenennung des entsprechenden Ringstraßenabschnitts vor dem Parlament. Auch die Salzburger Expert*innenkommission für Straßennamen kam 2021 zu der Beurteilung, dass in der Salzburger Dr.-Karl-Renner-Straße zwar eine Erläuterungstafel angebracht werden sollte, aber von einer Umbenennung abgesehen werden könne.

Über die Einordnung, ob diese Ehrung angesichts der Biografie allenfalls als „diskussionswürdig“ zu erachten wäre, bestand 2022/23 kein Konsens mit der verleihenden Fakultät und konnte vorerst mangels ausstehender primärquellenbasierter Forschungen noch keine endgültige Entscheidung getroffen werden. Die Klärung bleibt ein Forschungsdesiderat.

Werke (Auswahl)

  • Staat u. Nation (1899)
  • Staat und Parlament (1901)
  • Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat (1902)
  • Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie (1906)
  • Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion. Ein Beitrag zur Kritik des bürgerlichen Rechts (1929, 1965)
  • Österreichs Erneuerung (3 Bde., 1916)
  • Österreichs Volkswirtschaft und die Sanierung (1924)
  • Die Wirtschaft als Gesamtprozeß und die Sozialisierung (1924)
  • Wege der Verwirklichung (1929)
  • An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen von Karl Renner (1946)
  • Nachgelassene Werke (3 Bände, 1952–53)
  • Eduard Rabofsky (Hg.), Karl Renner: Die Gründung der Republik Deutsch-Österreich, der Anschluß und die Sudetendeutsche Frage [1938/39] (1990)

 

Archiv der Universität Wien, Rektorat GZ 126 ex 1945/46 (= S 226.1), GZ 15/I ex 1944/45

Herbert Posch

Zuletzt aktualisiert am 24.08.2023 - 18:06

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