Der Kastalia-Brunnen im Arkadenhof der Universität Wien
Inmitten des Arkadenhofs im Hauptgebäude, im Zentrum der Gedenk-Topographie der Universität Wien thront Kastalia. In der griechischen Mythologie ist sie die Hüterin der Quelle der Weisheit in Delphi. Im Arkadenhof sollte die um 1900 entstandene Brunnenfigur sinnbildlich die Weisheit jener Männer zum Ausdruck bringen, deren Denkmäler sie umgeben – das erste und einzige Denkmal für eine Frau wurde erst später (1925) errichtet. Im historischen Entstehungskontext ist ihre Bedeutung jedoch vielfältiger: Sie stand für ein männlich dominiertes und Frauen diskriminierendes Bürgertum, das gegen das herrschende System aufbegehrte. Besonders langlebig war ihre Bedeutung als Sinnbild einer frauenfeindlichen Universität. Erst 2009 wurde diese Bedeutungsebene durchbrochen durch die Einbeziehung des Kastalia-Brunnens in das Kunstprojekt von Iris Andraschek: „Der Muse reicht’s“.
Entstehungsgeschichte
Mit Eröffnung des Wiener Universitätsgebäudes 1884 begann der Akademische Senat, wie vom Architekten Heinrich v. Ferstel vorgesehen, Denkmäler für namhafte Wissenschaftler im Arkadenhof zu errichten – Frauen waren damals keine darunter. Für die Mitte des Hofs hatte Ferstel ein zentrales Reiterstandbild für den Stifter der Universität, Herzog Rudolf IV. vorgesehen. Dies wurde, vermutlich aus Kostengründen, jedoch nicht umgesetzt. Im November 1894 teilte der damalige Minister für Cultus und Unterricht, Stanislaw Madeyski, dem Rektorat mit, dass er den vom Bildhauer Anton Paul Wagner stammenden Entwurf von der Brunnen-Figur „die Nymphe Kastalia mit dem Drachen Python“ für den Arkadenhof umgesetzt sehen wolle und auch bereit wäre, dafür die Geldmittel zu beschaffen. Einen Grund für diese Entscheidung gab er nicht an. Das Rektorat stimmte der Umsetzung des Entwurfs zu. Aufgrund des Todes von Wagner 1895 wurde der Bildhauer Edmund Hellmer mit der Umsetzung des Entwurfs beauftragt. Erst 15 Jahre später, im August 1910, wurde mit dem Aufbau der Figur begonnen.
Mythologischer Hintergrund
Die mythologische Erzählung von der Quellnymphe Kastalia erfuhr im Laufe der Jahrhunderte vielfältige Ausprägungen. Im Folgenden wird der Fokus nur auf jene Aspekte dieser Erzählung gerichtet, die bei der Ausgestaltung der Plastik einbezogen wurden. Zur linken und rechten Seite der thronenden Kastalia finden sich an deren Sitz Inschriften in griechischer Sprache, die sich direkt auf Kastalia beziehen: „Ich bin Kastalia, die Tochter des Acheloos“ und „Mein Schlaf ist Träumen, mein Traum aber ward zur Erkenntnis.“ Der erste Satz benennt die Figur selbst und weist auf ihre Geschichte hin: Kastalia war die Tochter des Flussgottes Acheloos, die vor dem ihr nachstellenden Gott Apollo floh und, um ihm zu entgehen, sich in die Quelle bei Delphi stürzte und ertrank. Daraufhin setzte Apollo sie zur Hüterin dieser Quelle ein. Die zweite Inschrift wurde von Hans von Arnim (Professor für klassische Philologie an der Universität Wien 1900 bis 1914, 1921 bis 1930) in Anlehnung an eine Stelle in Richard Wagners Oper „Siegfried“ verfasst und verweist vordergründig auf jenen Aspekt der Kastalia-Erzählung, der sie als Hüterin der Quelle der Weisheit darstellt.
Scheinbar als Beiwerk der Plastik windet sich zu Kastalias Füßen eine aus Metall und nicht, wie der Rest der Brunnen-Figur, aus Stein geformte Schlange rund um den Thron und ist dennoch von zentraler Bedeutung bei der Interpretation des Monuments. Es handelt sich um den bereits erwähnten Drachen Python. Die mythologischen Erzählungen über diesen sind beinahe noch mannigfaltiger als diejenigen über Kastalia. Ein Relief auf der Rückseite der Figur verweist auf einen ganz bestimmten Moment in den Erzählungen: Ein kräftiger, junger, nackter Mann würgt eine Schlange. Bei der männlichen Figur handelt es sich um Apollo, der Python, die Schlange, tötet. Bevor der olympische Gott Apollo in Delphi verehrt wurde war das Heiligtum der Erdgöttin Gaia gewidmet und Python galt als Hüter/Hüterin des sakralen Ortes. Der Wechsel von einem Kult zum andern fand auch in verschiedenen Variationen des Mythos seinen Niederschlag, die allesamt von einer gewaltsamen Machtergreifung durch Apollo berichten – Apollo tötet Python.
Weibliche Allegorien in Denkmälern
Die Kunsthistorikerin Silke Wenk untersuchte in ihrer Habilitationsschrift nationale Denkmäler in Preußen, die im 19. und 20. Jahrhundert entstanden sind, und legte dabei ihren Fokus auf Funktion sowie Bedeutungsgehalt von weiblichen Allegorien im Rahmen dieser Denkmäler. Ihr war nämlich aufgefallen, dass diese Figuren damals häufig zur Repräsentation von Werten und Institutionen verwendet wurden, zu denen Frauen keinen Zugang hatten: Sieg, Nation, Wissenschaft etc. Auch wurden sie in der Regel anders gestaltet – z.B. spärlicher bekleidet – als Figuren, die reale Frauen abbildeten, und hatten eine andere Funktion als Repräsentationen weiblicher Rollenbilder, wie etwa die Bäuerin oder Soldatenfrau. Silke Wenk kommt zu dem Ergebnis, dass im späten 19. Jahrhundert in Preußen weibliche Allegorien den Herrscher-Körper, also die Repräsentation der monarchischen Staatsgewalt, die einen konkreten Herrscher oder eine konkrete Herrscherin abbildet, ersetzten und „eine wichtige Funktion in der Ausgestaltung des nationalen Bewusstseins und in der Organisierung einer neuen Form des ideologisch-kulturellen Zusammenhaltes“ hatten. (Wenk 1996, 92) Das Wiener Universitätsgebäude wurde als eine staatliche Einrichtung errichtet, deren Arkadenhof als Ort des Gedenkens an große Wissenschaftler – erst 1921 erhielt Elise Richter als erste Frau eine außerordentliche Professur, erst 1956 Berta Karlik eine ordentliche – in vielerlei Hinsicht einem nationalen Denkmal gleicht. Wird dieser nun anhand von Silke Wenks Erkenntnissen analysiert, ergibt sich folgendes Bild:
Resümee
Als die Monarchie noch die Staatsform Österreichs war, durchbrach Kastalia als Referenzpunkt im Zentrum der Gedenk-Topographie der Universität Wien die monarchische Herrschaftssymbolik. Diese war zum Zeitpunkt der Errichtung des Universitätsgebäudes in der Bausubstanz omnipräsent und ist es großteiles noch heute. Im Arkadenhof finden sich hingegen keine Symbole des einstigen Herrscherhauses. Mittels der weiblichen Allegorie imaginierte das gebildete Bürgertum einen Machtwechsel im Staat, so eben, wie in der mythologischen Erzählung Apollo die alte Göttin vertreibt und Python tötet. Dieser Umsturzgedanke auf der symbolischen Ebene wird verstärkt durch die Anspielung auf Richard Wagner in der zweiten griechischen Inschrift am Sitz Kastalias, zumal der Wagnerianismus zu jener Zeit für politische Erneuerung stand.
Das neue System sollte aber keineswegs ein weiblich dominiertes sein, wie Kastalia als weibliche Allegorie vielleicht vermuten lässt. „Die weiblichen Allegorien repräsentieren das Gegenteil des Weiblichen, sie repräsentieren nicht die Frauen, sondern das Herrschende, das selbst den ‚großen Männern’ mangelt und über sie hinausweist.“ (Wenk 1996, 101) Der als weibliche Allegorie konstruierte Frauenkörper, dessen Weiblichkeit symbolisch getilgt ist, diente lediglich als Projektionsfläche einer neuen, bürgerlichen Gemeinschaftlichkeit, in der Männer herrschen. So verharrt Kastalia in ihrer Rolle als tragisches Opfer männlicher Begehrlichkeit. Auf den Punkt gebracht lässt sich das Selbstverständnis jenes gebildeten, republikanischen Bürgertums, das sich im Arkadenhof der Universität Wien um 1900 imaginierte, so beschreiben: Männer herrschen, Frauen opfern sich auf.
Iris Andraschek gestaltete ihr 2009 installiertes Kunstprojekt „Der Muse reicht’s“ als bewusste Erwiderung auf diese diskriminierende Symbolik und wählte daher als zentralen Referenzpunkt den Kastalia-Brunnen.
Last edited: 01/19/17