Die Wiedereröffnung der Universität Wien und der Umgang mit dem Nationalsozialismus nach Kriegsende 1945
Die Universität Wien nahm trotz massiver Kriegszerstörungen unmittelbar nach Kriegsende wieder ihren Betrieb auf. Die Aufarbeitung der Involvierung der eigenen Institution in den Nationalsozialismus und die Disziplinierung der meist weiterhin nationalsozialistisch gesinnten Angehörigen trat jedoch in den Jahren ab 1945 zunehmend hinter die Aufgaben des "Wiederaufbaus" und "Neuanfangs" zurück. Doch Nationalsozialismus (und Austrofaschismus) hatten tiefe Spuren hinterlassen, die jahrzehntelang in der Universität und weit darüber hinaus nachwirkten.
Wiederaufbau und Restauration
Am 10. April 1945 erreichten die ersten sowjetischen Soldaten das Wiener Universitätsviertel und nutzen das verlassene Hauptgebäude der Universität Wien kurzzeitig als Lazarett (Turnsäle) und Pferdestall.
Die Wochen um die Wiedereröffnung der Universität Wien wurden besonders von Kurt Schubert detailreich beschrieben. Mit seinen autobiografischen Berichten schrieb sich Schubert als selbsternannter „Studentenrektor“ und als zentrale Figur des Wiederaufbaus in die Geschichte der Universität Wien ein. Nach seinem Bericht nahm er zwischen 12 und 15. April Kontakt zur österreichischen Widerstandsbewegung „O5“ sowie zum sowjetischen Stadtkommandanten General Alexej Blagodatow auf, berief eine erste Professorenkonferenz am Institut für Ägyptologie und Afrikanistik in der Frankgasse 1 ein und übernahm als provisorischer „Rektor“ (ausgestattet mit einem entwendeten Rektorsstempel) das geräumte Hauptgebäude der Universität Wien von den sowjetischen Befreiern. Tags darauf, am 16. April, wurde folgende Bekanntmachung veröffentlicht:
„Alle Studentinnen und Studenten, die im Sommersemester 1945 inskribieren wollen, werden aufgefordert, unverzüglich in die Universität zu kommen und einen zehnstündigen Räumeinsatz zu leisten. Beginn des Sommersemester am 2. Mai."
Kurt Schubert, Die Wiedereröffnung der Universität Wien im Mai 1945, Wien 1991. S. 11
Studierende wurden als Arbeitskräfte für die Beseitigung von Bombenschutt, den Rücktransport verlagerter Bücher und Laborgeräte sowie für die Wiederherstellung zerstörter Gebäude eingesetzt.
Bereits am 20. April 1945 erfolgte die Wahl des akademischen Senats. Am 25. April wurde mit dem Juristen Ludwig Adamovich sen. der erste Nachkriegsrektor der Universität Wien gewählt (Amtsantritt 1. Mai 1945) und trotz Wiederaufbauarbeiten – das Hauptgebäude wurde von 26 Bomben getroffen – begann am 29. Mai 1945 der Vorlesungsbetrieb für das Sommersemester. Adamovich berichtete später, dass es Prof. Josef Keil gewesen war, der provisorisch das Rektorat übernommen und die ersten Professorenversammlungen einberufen hatte.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Involvierung in den Nationalsozialismus nicht grundlegend aufgearbeitet. Die „Entnazifizierung“ der Lehrenden und Studierenden der Universität Wien zog sich bis in die späten 1950er Jahre hin und etwa die Hälfte der „belasteten“ Professoren setzen nach einigen Jahren ihre Universitätslaufbahn wieder fort. Von den 1938 Vertriebenen kehrten hingegen nur wenige an die Universität zurück, konzentrierte sich die Politik des Ministeriums doch vor allem die Berufung katholisch-konservativ orientierter Lehrkräfte. Wie sehr exponierte Nationalsozialisten als Lehrende das politische Milieu der Wiener Hochschulen in den Nachkriegsjahrzehnten prägten, wurde 1965 vor allem an der Affäre um die offenen antisemitischen Aussagen des Professors für Wirtschaftsgeschichte Taras Borodajkewycz sichtbar. Die öffentliche Aufmerksamkeit und Empörung führte jedoch langfristig erstmals zu einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Hochschulen im Nationalsozialismus.
Aufarbeitung der Rolle der Universität im Nationalsozialismus
Um die Präsidentschaftskandidatur Kurt Waldheims 1986 und das „Bedenkjahr“ 1988 (50 Jahre „Anschluss“ an das Deutsche Reich) begann auch an der Universität Wien allmählich eine Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus an der eigenen Institution. Wichtige frühe Initiativen, die sich dem Engagement einzelner HistorikerInnen verdankten, waren in diesem Zusammenhang die Ringvorlesung „Die Universität Wien 1938–1945“ (1988), oder die Gedenkinschrift für den 1936 in der Universität ermordeten Philosophen Moritz Schlick (1993). Zum 625. Universitätsjubiläum veröffentlichte die Universität Wien 1990 mit der Broschüre „Vertriebene Intelligenz“ erstmals ein zentrales Werk zur Vertreibung der Lehrenden 1938.
Rund um die Jahrtausendwende kam es zunehmend zur aktiven Auseinandersetzung der Universität mit ihrer NS-Vergangenheit, wie etwa 1998 beim Senatsprojekt „Untersuchungen zur anatomischen Wissenschaft in Wien 1938–1945“ und bei der im Arkadenhof enthüllten Gedenktafel für die vertriebenen Lehrenden und Studierenden der Medizinischen Fakultät, die erstmals explizit die Mitverantwortung der Universität benennt. Zu den Aktivitäten zählen auch mehrere wissenschaftliche Symposien, Aufarbeitungsprojekte zur Vertreibung der Studierenden und Lehrenden 1938 sowie Provenienzforschung, Lehrveranstaltungen sowie Publikationen und nicht zuletzt die Etablierung des Forums „Zeitgeschichte der Universität Wien“ als Koordinationsstelle von Aktivitäten zur Aufarbeitung der Universitätsgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert (2006–2015).
Erinnern und Gedenken
Auch als Schwerpunkt einer kritischen Gedenkkultur der Universität rückte das Thema Nationalsozialismus erstmals in den Mittelpunkt. 1998 wurden zum Beispiel 1998 die 24 Durchgänge des neuen Campus der Universität Wien (ehemaliges Allgemeines Krankenhaus) als „Tore der Erinnerung“ gewidmet. Explizit wurden Frauen und die im Nationalsozialismus vertriebenen Lehrenden – bis dahin unterrepräsentierte Gruppen –, als NamengeberInnen ausgewählt. Das noch bestehende ehemalige jüdisches Bethaus am neuen Campus wurde 2005 als Gedenk- und Begegnungsort DENK-MAL Marpe Lanefesch eröffnet.
Besonders deutlich zeigte sich diese veränderte, reflektierte Haltung der Universität gegenüber ihrer Involvierung in den Nationalsozalismus in der 2006 fertiggestellten historischen und künstlerischen Kontextualisierung des deutschnationalen Denkmals „Siegfriedskopf“ und dessen Verlagerung von der Aula des Hauptgebäudes in den Arkadenhof der Universität Wien. Die Leerstelle, die der „Siegfriedskopf“ in der Aula hinterließ, besetzte die Universität mit Statements in zwei Gedenknischen, für die sie heute steht: Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, „Für die Freiheit der Wissenschaften und die Achtung der Menschenrechte“ und „gegen Krieg und Gewalt“. Im Zuge der Umgestaltung der Aula wurde 2006 auch die Installation "Nobelpreis und Universität – ein Gruppenbild mit Fragezeichen" eröffnet, die auch auf die Involvierung von Julius Wagner-Jauregg und Konrad Lorenz in den Nationalsozialismus eingeht.
Neben diesen gesamtuniversitären gedenk- und erinnerungspolitischen Setzungen fallen in diese Zeit auch Projekte einzelner Disziplinen wie das dezentral organisierte „Denkmal für Ausgegrenzte, Emigrierte und Ermordete des Kunsthistorischen Instituts der Universität Wien 1933/34 | 1938 | 1945“ (2008), „Tabula rasa“ Gedenkwand an der Fakultät für Chemie (2018) oder das „Denkmal für die im Nationalsoazialismus vertriebenen Geschichte-Studierenden und Lehrenden“ (2021/22).
Als Neuerung sind im Kontext Gedenken aber auch virtuelle Formen zu nennen, wie das Online-"Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938", das seit 2009 als „work in progress“ im Internet präsentiert und laufend ausgebaut wird.
Zuletzt aktualisiert am 03/05/24
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Kurt Schubert
4.3.1923–4.2.2007 -
Ludwig Adamovich sen.
30.4.1890–23.9.1955 -
Otto Skrbensky
22.7.1887–29.10.1952 -
Taras Borodajkewycz
1.10.1902–10.1.1984