NS-Provenienzforschung an den Bibliotheken der Universität Wien
Anfang des 21. Jahrhunderts gab es ein neues Interesse an der Auseinandersetzung mit NS-Raubgut und die Universitätsbibliothek Wien begann als erste Universitätsbibliothek in Österreich, systematisch nach den geraubten Büchern zu suchen, die in der NS-Zeit oder auch später in ihren Regalen und Magazinen gelandet sind. Seither wurden hunderttausende Bücher untersucht, umfassende Recherchen angestellt und zahlreiche Bücher an ErbInnen und RechtsnachfolgerInnen restituiert. Als Beitrag zur Forschung und zur Geschichte wurden die Ergebnisse öffentlich gemacht.
NS-Raubgut kommt an die Bibliotheken der Universität
Es gehört zur Geschichte der Universität Wien in der NS-Zeit, dass ihre Bibliotheken vom Bücherraub des NS-Regimes profitierten. Bücher und Bibliotheken, die bei gezielten Kunstraubzügen ebenso anfielen wie bei der Enteignung religiös/rassisch oder politisch verfolgter Personen und Institutionen, gelangten in die Bibliotheken. Dort wurden sie mitunter sehnlichst erwartet, immer wieder bloß mechanisch bearbeitet und als Dublette weitergegeben, manchmal als Leihgabe untergestellt. Bücher und Sammlungen, die ihre ursprünglichen Eigentümer zurücklassen mussten, wurden in die Bibliotheksbestände aufgenommen, zahlreiche Bücher blieben liegen und wurden zur späteren Bearbeitung zur Seite gelegt, einiges ohne viel Aufhebens weitergegeben.
Nach 1945: Rückgaben, aber auch ‚neue‘ geraubte Bücher
Mit dem Ende der NS-Zeit ist die Geschichte dieser geraubten Bücher noch lange nicht zu Ende. Zum einen gab es in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Reihe von Restitutionen – mit den bekannten Einschränkungen, dass sich die Opfer selbst darum bemühen mussten und die Dokumentation so schlecht war, dass dann doch immer wieder Bücher in den Bibliotheken zurückblieben. Zum anderen wurde auch jetzt noch NS-Raubgut übernommen und in die Bibliotheksbestände eingearbeitet. So übernahm die Universitätsbibliothek (die heutige Hauptbibliothek) nicht nur die Buchbestände der Gestapoleitstelle Wien, sondern etwa auch die „Sammlung Tanzenberg“. Dies war eine nach ihrem Aufbewahrungsort im Kärntner Schloss Tanzenberg benannte Sammlung von in ganz Europa geraubtem und nun sogenanntem „herrenlosen Gut“, das in den 1950er Jahren verteilt und noch lange von der UB aufgearbeitet wurde.
An Institutsbibliotheken wurden Bücher aus Leihgaben wie jene der NS-Organisation „Ahnenerbe“ ebenso zwischengelagert oder eingearbeitet wie solche von aufgelösten Vereinen wie der freigeistigen All Peoples Association oder solche aus dem Besitz prominenter Opfer der NS-Verfolgung wie die ehemaligen Wiener ProfessorInnen und Lehrenden Guido Adler (1855–1941), Karl Bühler (1879–1963) oder Elise (1865–1943) und Helene Richter (1861–1942).
Ein Fallbeispiel: Gottfried Bermann-Fischer
Stellvertretend für viele Fälle, die seither entdeckt und bearbeitet wurden und in Restitutionen mündeten, sei hier Gottfried Bermann-Fischer (1897–1995) genannt. Der 1897 geborene Verleger hatte bereits 1936 NS-Deutschland in Richtung Österreich verlassen müssen und flüchtete unmittelbar nach dem „Anschluss“ im März 1938 weiter in die Schweiz. Sowohl seine Privatbibliothek als auch neue Werke des Bermann-Fischer Verlags „verfielen“ an das Deutsche Reich und wurden von der Gestapo der Nationalbibliothek Wien überlassen, von wo schon vorhandene Titel fallweise weitergegeben wurden. So landeten zwei dieser Bücher schließlich als Geschenk an der Universitätsbibliothek Wien. Eines der Bücher konnte durch das Exlibris von Dr. Gottfried Bermann eindeutig zugeordnet werden, ein weiteres mit dem Exlibris war unter den Büchern, die 1951 von der Büchersortierungsstelle an die UB Wien übergeben und dort mit dem „Sammlung Tanzenberg“-Stempel versehen wurden. Außerdem kaufte die Bibliothek des Instituts für Germanistik 1974 beim Antiquariat Friedrich Toda in Wien das dreibändige Werk „Briefe an Cotta“, das durch das Exlibris von Bermann-Fischer ebenfalls eindeutig zuordenbar ist. Wie das 1938 „arisierte“ Antiquariat zu den Büchern gekommen ist, lässt sich nicht mehr nachvollziehen – sie sind jedenfalls nicht Teil jener Bücher, die in der Nachkriegszeit von der Österreichischen Nationalbibliothek restituiert wurden. Die an der UB Wien aufgefundenen Bände wurden 2013 an die Erben nach Gottfried Bermann-Fischer restituiert.
Lange kaum ein Thema
Die Auseinandersetzung mit den in den Regalen und Magazinen der Universitätsbibliotheken lagernden geraubten Büchern blieb lange auf Einzelinitiativen beschränkt, die Thematisierung war lange fast ausschließlich engagierten BibliothekarInnen in Hausarbeiten während ihrer Fachausbildung überlassen. Das änderte sich endgültig, als Anfang des 21. Jahrhunderts nicht nur neue Veröffentlichungen den Bücherraub der NS-Zeit auch an der Universität Wien thematisierten, sondern auch der NS-Kunstraub und überfällige Restitutionen international in aller Munde waren. Mit der Umsetzung des Kunstrückgabegesetzes aus dem Jahr 1998 war die systematische Auseinandersetzung mit Raub und Restitution in Österreichs Bibliotheken angekommen.
Die UB Wien startet Provenienzforschung und Restitutionen
2004 richtete die Universitätsbibliothek Wien als erste Universitätsbibliothek in Österreich ein Projekt zur systematischen Suche und Rückgabe von in der NS-Zeit geraubten Büchern ein. In den folgenden Jahren wurden in der Hauptbibliothek und den über 40 Fachbereichsbibliotheken hunderttausende Bücher händisch auf Hinweise nach VorbesitzerInnen (wie etwa Eintragungen, Stempeln oder Exlibris) untersucht und etwa 60.000 Hinweise für weitere Recherchen dokumentiert. Darüber hinaus wurde Archivmaterial und Fachliteratur studiert, Inventarbücher ausgewertet und Ergebnisse mit anderen Projekten verglichen.
Die Ergebnisse wurden in Falldossiers aufbereitet, über anstehende Rückgaben entschieden und, in Kooperation mit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und dem Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus, ErbInnen gesucht und teilweise gefunden. 2009 konnte die erste Restitution durchgeführt werden, seither wurden in über 15 Fällen (Stand: 09/2014) Bücher an die RechtsnachfolgerInnen der ursprünglichen BesitzerInnen zurückgegeben.
Nicht in allen Fällen reichen die Daten, um ErbInnen zu finden oder RechtsnachfolgerInnen zu identifizieren. Immer wieder ist klar geworden, dass bestimmte Bücher in der NS-Zeit geraubt wurden, ohne dass das Opfer der Enteignung bekannt wäre. Solche Fälle werden in der Kunstdatenbank des Nationalfonds veröffentlicht, um möglicherweise weitere Hinweise zu bekommen.
NS-Provenienzforschung: ein öffentlicher und historischer Beitrag
Die NS-Provenienzforschung der Universitätsbibliothek beschränkt sich nicht auf die Abwicklung der Fälle und die interne Dokumentation der Ergebnisse. Diese werden auf allen möglichen Wegen öffentlich gemacht – sei es auf der Website und im Online-Katalog der UB, sei es auf wissenschaftlichen Tagungen und in internationalen Arbeitsgruppen, durch Fachpublikationen oder in Lehrveranstaltungen. Das soll vergleichbare Projekte unterstützen, durch Austausch der Ergebnisse und die Weiterarbeit mit erprobten Methoden. Es soll auch das Bewusstsein der Bibliothek für die Verantwortung für ihre Bestände und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen zeigen. Der mittlerweile fix eingerichtete Arbeitsbereich beleuchtet einen lange vernachlässigten Bereich der Bibliotheksgeschichte der Universität Wien, stellt Verbindungen zu zahlreichen Initiativen der Universität her und setzt seine Ergebnisse in konkrete Handlungen um.
Last edited: 03/05/24