Die Entwicklung der Universitätsbibliothek zu einer modernen Institution
Die Ausformung der Universitätsbibliothek zur modernen Institution beginnt in den 1770er Jahren mit der Bestandsbildung und Eröffnung der adaptierten Bibliotheksräume im ehemaligen Akademischen Kolleg. Im langen 19. Jahrhundert bildet sie in weiterer Folge einen Grundpfeiler des Wissenschaftsbetriebs für Forschung, Lehre und Studium, der die bibliothekarischen Neuerungen der Zeit und die sich schrittweise vollziehende Demokratisierung des Wissens mit auf den Weg nimmt.
Neugründung der Universitätsbibliothek 1777
Die 1773 erfolgte Aufhebung des Jesuitenordens hatte zur Folge, dass die Ordensbibliothek im Akademischen Kolleg aufgrund einer kaiserlichen Resolution an die Universität übergeben wurde. Im selben Atemzug kam es zu einer Inkorporation der beiden verbleibenden Jesuitenbibliotheken in Wien, jene von St. Anna und Am Hof, die nun gemeinsam den Grundstock der am 13. Mai 1777 eröffneten Universitätsbibliothek bildeten. Das neue Bibliothekskonzept setzte auf Benutzerfreundlichkeit, in anderen Worten solle „nichts zur Schau, wohl aber alles zu einer bequemen Gelegenheit zum Lernen veranstaltet werden“, wie es in einem Hofdekret des Jahres 1776 heißt. Nicht Prunk, seltene und alte Drucke standen im Vordergrund, sondern die Versorgung des interessierten bzw. akademischen Lesers mit rezenter wissenschaftlicher Literatur, die er in einem eigens dafür vorgesehenen Lesesaal zu den Öffnungszeiten benutzen konnte. Die Entlehnung war allerdings nur Professoren gestattet. Durch die josephinischen Klosteraufhebungen gelangten weitere umfangreiche Bestände in die Universitätsbibliothek, welche nun selbst einen Bestand von 45.000 Bänden aufwies.
Die sich schrittweise vollziehende Institutionalisierung der Bibliothek umfasste noch zusätzliche Bereiche: Die Erstellung von Katalogen ermöglichte einen schnellen Zugriff auf den stetig wachsenden Bestand. Das Bibliothekspersonal wurde straff organisiert, und zwar durch die Berufung eines Professors zum Oberdirektor, der nun eigens für die Arbeit in der Bibliothek abgestellt wurde, sowie den Aufbau eines hierarchisch gegliederten Mitarbeiterstabs. Die Professionalisierung des Bibliotheksberufs sollte im 19. Jahrhundert auf der Grundlage einer bibliothekarischen Ausbildung noch deutlichere Formen annehmen.
Lesen in der „Heringstonne“
Der Ansturm auf die neue Universitätsbibliothek im alten Universitätsviertel führte zu einem überfüllten Lesesaal, den die Studenten bald als „Heringstonne“ bezeichneten. Der bereits baufällige Standort im Bibliothekstrakt des ehemaligen Akademischen Kollegs machte neben der angesprochenen Raumnot einen Um- und Ausbau mehr als erforderlich. Doch die Umsetzung des Vorhabens ließ auf sich warten. Erst 1827 wurde mit dem Bau begonnen, der weitreichende Veränderungen vorsah. Leopoldo della Santas 1816 verfasstes Werk „Della costruzione e del regolamento di una pubblica universale biblioteca“, ein frühes Standardwerk der Bibliothekswissenschaft, hatte dabei großen Einfluss. Als Hauptansatz schlägt der Autor die Trennung von Buch, Leser und Bibliothekar vor und fordert die Errichtung von eigenständigen Benutzungs-, Verwaltungs- und Depoträumen. Seine einleitenden Worte besagen Folgendes: „Die öffentlichen Universalbibliotheken bewahren in ihren Büchern alles menschliche Wissen und bieten Gelegenheit, es zu erlernen. Aus diesem Grund müssen sie in der bürgerlichen Gesellschaft zu den notwendigen Einrichtungen gehören, die einen der ersten Plätze einnehmen. Ihre Gestaltung verlangt große Überlegung. Bei vielen der bestehenden Bibliotheken stellte ich zahllose Missstände zum Nachteil der Bücher, zum Ärger der Benutzer und zur Unbequemlichkeit und Behinderung der Tätigkeit der in ihnen Beschäftigten fest.“ Den Lösungsansatz zur Trennung dieser drei Bereiche setzte man beim Umbau der Universitätsbibliothek Wien um. Bücherspeicher und Lesesäle wurden ausgebaut, während neue Arbeits- und Wohnbereiche für das Bibliothekspersonal entstanden. 1829 erstrahlte die Universitätsbibliothek Wien in neuem Glanz.
Eine moderne Bibliothek als Beitrag zur „Neugestaltung des öffentlichen Lebens“
Die Folgezeit war von der Umstellung der systematisch aufgestellten Werke in eine Aufstellung nach dem Numerus currens geprägt. Das Revolutionsjahr 1848 brachte der Bibliothek nun eine Art zweiter Öffnung ihrer Bestände: Die Aufhebung der bestehenden Zensurverordnung und in weiterer Folge die Ausweitung der Entlehnung auf alle Benutzer bzw. die Fernleihe innerhalb der Österreichischen Monarchie waren wichtige Meilensteine der Moderne. Der Jurist und Statistiker Karl Hugelmann bezeichnete diese Veränderungen in der Zeitschrift für Verwaltung 1879 als „Neugestaltung des öffentlichen Lebens“ und bemerkt weiters: „Der Bücherschatz der österreichischen Universitäts- und Studienbibliotheken ist mit Einem Schlage zu einem gemeinschaftlichen für die ganze österreichische Lehrer- und Schriftstellerwelt geworden“.
Durch das Anwachsen des Bücherschatzes platzte der Bibliotheksbau im Alten Universitätsviertel wiederum aus allen Nähten. Daher verfolgte der Bibliotheksdirektor den Plan, nach Fertigstellung des neuen Universitätshauptgebäudes an der Ringstraße die Bibliothek am alten Standort zu belassen, um dort die frei gewordenen Räume als Platzreserve nutzen zu können. Dies scheiterte jedoch am Widerstand der Professorenschaft, welche den Buchbestand als Grundlage für Lehre und Forschung in unmittelbarer Nähe verfügbar haben wollte. So wurde der knapp 300.000 Bände umfassende Bestand 1884 in das gerade fertig gestellte, neue Universitätshauptgebäude an der Ringstraße transferiert, das nun seinerseits die Versinnbildlichung der Identität stiftenden Einheit von Bibliothek und Universität darstellte.
Zuletzt aktualisiert am : 12.11.2021 - 20:47