Die Rechts- und Staatswissenschaften, Teil II

Das 20. Jahrhundert
1893–2015

Mehr als jede andere Einrichtung der Universität Wien war die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät von den politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts betroffen; mehr als die Hälfte ihrer Professoren wurden 1938 in den Ruhestand versetzt, zwei kamen im KZ Theresienstadt ums Leben. Nach Wiederrichtung der Republik Österreich 1945 blieb die Fakultät noch dreißig Jahre lang bestehen, bis sie 1975 in kleinere Einheiten aufgeteilt wurde. Heute stehen die Rechtswissenschaftliche Fakultät sowie die Fakultäten für Wirtschaftswissenschaften und für Informatik in der Tradition der alten rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät.

Mit der Studienordnung von 1893 wurden die beiden öffentlich-rechtlichen Fächer Verfassungs- und das Verwaltungsrecht Pflichtgegenstände des juristischen Studiums und nahmen seitdem einen großen Aufschwung. Ihrer stärkeren Verankerung im Studienplan standen aber noch lange große Vorbehalte entgegen, sodass die Idee entwickelt wurde, neben dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften ein besonderes Studium der Staatswissenschaften einzuführen. Dies erfolgte 1919, zeitgleich mit der Zulassung von Frauen zum Rechtsstudium. Das neue Studium war weniger auf die Bedürfnisse der österreichischen Justiz zugeschnitten, betonte dagegen das Öffentliche Recht und auch die wirtschaftswissenschaftlichen Fächer mehr. Es konnte bis 1966 studiert werden, als an seiner Stelle die Studien der Volkswirtschaftslehre und der Soziologie an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät etabliert wurden.

Der bedeutendste Staatsrechtler aus der Zeit der Ersten Republik war Hans Kelsen, der einer breiten Öffentlichkeit vor allem durch seine Mitwirkung an der österreichischen Bundesverfassung von 1920 bekannt ist. An der Wiener rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät gründete er die „Wiener rechtstheoretische Schule“, zu deren bedeutendsten Schülern der Staatsrechtler Adolf Julius Merkl sowie der Völkerrechtler Alfred Verdroß zählen. Diese Schule wird auch als „Reine Rechtslehre“ bezeichnet, zumal es eines ihrer Hauptanliegen ist, wissenschaftliche Aussagen über das Recht sowohl von Aussagen über tatsächliche (soziologische) Verhältnisse als auch von politischen Forderungen an das Recht zu trennen. Nicht zuletzt aufgrund antisemitischer Anfeindungen an der Fakultät verließ Kelsen jedoch schon 1930 Wien, worauf seine Schule allmählich zerfiel.

Die wissenschaftliche Positionierung der Reinen Rechtslehre erklärt sich aus dem Bestreben vieler anderer Juristen jener Zeit, nicht nur das angeblich realitätsferne Recht, sondern auch das „wirkliche Leben“ untersuchen zu wollen. Große Bedeutung hatte diese Strömung vor allem für die Strafrechtswissenschaft, die sich um eine Vernetzung mit anderen Kriminalwissenschaften (Kriminologie, Kriminalistik) bemühte. 1923 wurde auf Betreiben von Wenzel Gleispach ein „Institut für die gesamte Strafrechtswissenschaft und Kriminalistik“ gegründet, welches bis 2006 – unter wechselnden Bezeichnungen – in der Liebiggasse beheimatet war.

Die von Carl Menger (dem älteren Bruder des Zivilprozessualisten Anton Menger) begründete Österreichische Schule der Nationalökonomie, auch „Grenznutzenschule“ bezeichnet wegen ihres mikroökonomischen Ansatzes, fand weltweite Beachtung und hatte an der Universität Wien in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt, als Eugen Böhm von Bawerk hier lehrte. Der bedeutendste Vertreter der Österreichischen Schule in der Zwischenkriegszeit, Ludwig (von) Mises, erlangte in Österreich jedoch bis zu seiner Emigration 1934 niemals einen Lehrstuhl. Vielmehr war 1919 mit der Berufung von Othmar Spann als Professor für Nationalökonomie und Gesellschaftslehre ein erklärter Gegner der Österreichischen Schule an die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät gekommen. Bedeutung hatten aber weniger Spanns ökonomische als seine soziologischen Theorien, die zum Nährboden (austro-)faschistischer Ideologien wurden. Nichtsdestoweniger verlor auch Spann im Jahre 1938 seinen Lehrstuhl und wurde im KZ Dachau interniert.

Schon aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät sehr stark in die politischen Kämpfe der Zwischenkriegszeit involviert war. Im Gefolge des Staatsstreiches 1933 verfassten mehrere Fakultätsmitglieder kritische Aufsätze für eine reichsdeutsche Zeitschrift. Für drei von ihnen – Wenzel Gleispach, Max Layer und Karl Hugelmann – hatte dies unmittelbar oder mittelbar ihre Versetzung in den Ruhestand zur Folge. Einen weitaus größeren personellen Einschnitt brachte jedoch die NS-Zeit mit sich, als mehr als die Hälfte der Professoren und Dozenten ihren Lehrstuhl in den Ruhestand versetzt wurden bzw. ihre Lehrbefugnis verloren. Viele von ihnen emigrierten, viele wurden verhaftet. Der Römischrechtler Stephan Brassloff und der Handelsrechtler Josef Hupka kamen 1943 bzw. 1944 im KZ Theresienstadt ums Leben.

Das Studium der Rechtswissenschaften hatte 1935 eine größere Reform erfahren, wobei auch die Ideologie des Ständestaates (z.B. in den Vorlesungen aus christlicher Rechtsphilosophie) zu erkennen war. Die 1939 an den österreichischen Rechtsfakultäten eingeführte Studienordnung brachte eine völlige Umwälzung des tradierten Fächerkanons; der Stoff sollte nicht mehr nach „abstrakten“ Disziplinen, sondern nach „Lebenssachverhalten“ („Volk“, „Stände“, „Staat“) gegliedert werden. 1945 wurde die Studienordnung 1935 mit gewissen Änderungen wieder in Geltung gesetzt und blieb in dieser Form bis 1981 gültig.

Von den in der NS-Zeit vertriebenen Professoren kehrte nur ein kleiner Teil, wie insbesondere Adolf J. Merkl, Ludwig Adamovich oder Willibald Maria Plöchl, zurück an die Fakultät, und ebenso wurde nur ein kleiner Teil der in der NS-Zeit lehrenden Professoren (etwa der 1938–1945 amtierende Dekan Ernst Schönbauer) nach 1945 auf Dauer von der Universität entfernt.

Die Reine Rechtslehre, die mit der Emeritierung von Merkl und Verdroß 1960 auszusterben drohte, wurde von Merkls Schüler Robert Walter zu neuer Blüte geführt. Sein Antipode in wissenschaftlicher Hinsicht war v.a. der Zivilrechtler Franz Bydlinski; er vertrat die sog. Wertungsjurisprudenz, welche im Gegensatz zur Reinen Rechtslehre der Auffassung ist, dass oberste Werte, wie v.a. die Gerechtigkeit, mit rationalen Mitteln erkannt werden können. Beide gründeten Schulen, die bis heute an der Fakultät fortwirken.

1975 erfolgte die Teilung der Fakultät in eine rechtswissenschaftliche und in eine sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät. Letztere wurde in den Jahren 2000 und 2004 in immer kleinere Einheiten aufgeteilt, heute gehen insbesondere die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und die Fakultät für Informatik auf sie zurück. Das Studium der Rechtswissenschaften wurde 1978 grundlegend reformiert und insbesondere in ein Diplomstudium und ein darauf aufbauendes Doktoratsstudium gegliedert. Ersteres sollte die Berufsbefähigung insbesondere für die „klassischen“ Juristenberufe (Richter, Rechtsanwalt, Notar, Verwaltungsbeamter) darstellen, während das Doktoratsstudium stärker wissenschaftlich orientiert war und nun u.a. wieder eine Dissertation erforderte. Kleinere Reformen erfolgten insbesondere 1999 und 2006; die Einführung eines dreigliedrigen Studiums im Sinne des sog. Bologna-Prozesses wurden sowohl von der Fakultät als auch von den Vertretern der Juristenberufe abgelehnt.

Thomas Olechowski

Zuletzt aktualisiert am : 22.05.2019 - 09:08

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