Terror gegen das Anatomische Institut von Julius Tandler
In der Zwischenkriegszeit kam es an der Universität ab 1920 regelmäßig zu schweren antisemitischen Ausschreitungen, die sich bis Mitte 1933 radikalisierten. Hauptschauplatz war neben dem Hauptgebäude der Universität Wien das I. Anatomische Institut, das vom international renommierten Anatomen und sozialdemokratischen Gesundheitspolitiker Julius Tandler geleitet wurde. Die zahllosen Krawalle, die dazu dienen sollten, Tandler, seine MitarbeiterInnen und seine Studierenden einzuschüchtern, forderten Dutzende verletzte Opfer und trugen mit dazu bei, dass an der Universität Wien in der Ersten Republik eine Art Bürgerkriegsatmosphäre herrschte.
Vertraut man der Wikipedia-Seite zur Geschichte der Universität Wien, dann scheint es an Österreichs größter und ältester Hochschule in der Zwischenkriegszeit vergleichsweise ruhig zugegangen zu sein. Im entsprechenden Abschnitt heißt es wie folgt: „1928 fanden Hochschulkrawalle statt, 1932 waren ebenfalls Studentenkrawalle zu verzeichnen, die mit Demonstrationen vor dem Haupteingang der Universität verbunden waren.“ Diese Angaben haben als einzige, unzuverlässige Quelle eine von der Bundespolizeidirektion Wien im Jahr 1949 herausgegebene Festschrift – und sind nicht nur verharmlosend, sondern auch falsch.
Zieht man nämlich andere Quellen – wie Berichte in Tageszeitungen, autobiografische Aufzeichnungen oder andere Archivalien – heran, dann zeigt sich ein völlig anderes Bild: Ab 1920 fanden an der Universität Wien mit zunehmender Häufigkeit und Heftigkeit gewaltsame Attacken auf jüdische und linke Studierende statt, ihre Höhepunkte erreichten die Ausschreitungen Anfang der 1930er-Jahre.
Brennpunkt Währinger Straße 13
Neben dem Hauptgebäude der Universität am Ring war das von Julius Tandler geleitete I. Anatomische Institut in der Währinger Straße Nr. 13 der zweite Hauptschauplatz der Krawalle. Dort fanden zwischen 1920 und 1933 fast schon regelmäßig Verwüstungen und Schlägereien statt, die wie durch ein Wunder keine Toten, aber immer wieder zahlreiche Schwerverletzte forderten.
Antisemitische Ausschreitungen an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien reichen zwar bis 1875 zurück. Dass diese Übergriffe nach 1918 neue Dimensionen annahmen, hing erstens mit der starken Zuwanderung zahlreicher sogenannter „ostjüdischer“ StudentInnen während des Ersten Weltkriegs zusammen sowie den miserablen wirtschaftlichen Bedingungen in der Nachkriegszeit. Das antisemitische Klima wurde von Politikern und Studentenvertretern noch zusätzlich angeheizt, insbesondere durch die an den Hochschulen schnell erstarkenden „Hakenkreuzler“.
Da es an der Universität Wien – anders als an Hochschulen in Polen und Ungarn, aber auch an etlichen US-Universitäten in dieser Zeit – keinen Numerus clausus für jüdische Studierende gab, sollte also psychische und physische Gewalt „nachhelfen“, die Zahl der jüdischen Studierenden zu senken, durchaus geduldet von den Rektoren.
Tandler als „rotes Tuch“
Warum Julius Tandler und sein Institut zum Ziel der Ausschreitungen wurden, ist leicht erklärt: Der international angesehene Anatom war ab 1920 im „Roten Wien“ Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen und so einer der politisch sichtbarsten und exponiertesten Professoren jüdischer Herkunft. Tandler führte auch Buch über diese Ausschreitungen, das Konvolut nannte er „Chronologie des Terrors“, beginnend mit dem 26. April 1920, als bei den antisemitischen Krawallen unter anderem eine Glastür des Instituts zu Bruch ging.
Ende 1923 kam es dann rund um die Einweihung des sogenannten „Siegfriedskopfs“ und des gescheiterten Putschversuches der Nationalsozialisten in Deutschland erstmals zu besonders heftigen Auseinandersetzungen, die insgesamt neun Schwerverletzte forderten. Wieder war das Institut von Tandler in Mitleidenschaft gezogen worden, der sich bei der Universitätsleitung über eine lasche Verfolgung der Täter beklagte.
Internationale Berichterstattung
Nach kleineren Ausschreitungen 1925 folgten im Jahr 1927 weitere schwere Verwüstungen und Prügeleien mit etlichen Verletzten. Diese antisemitisch motivierten Attacken, die der deutschnationale Rektor Hans Molisch nur halbherzig verurteilte, wurden auch international wahrgenommen. So schrieb etwa die „New York Times“ am 19. Juni 1927: „Vienna students are once more taking to politics instead of the study of books (…) In fact, the whole political situation of the country has been upset by the students.“
Während Rektor Theodor Innitzer 1928/29 danach strikt gegen die nationalsozialistischen Aufwiegler vorging, änderte sich die Lage mit seinem Nachfolger Wenzel Gleispach, selbst Heimwehr-Mitglied und bekennender „Hakenkreuzler“-Sympathisant. Ab dem Herbst 1929 herrschte dann an der Universität und auch am I. Anatomischen Institut Tandlers praktisch permanenter Ausnahmezustand.
Bis zum Sommer 1933 drehte sich die Spirale der Gewalt immer schneller und die Übergriffe wurden immer brutaler. Zwar gab es durchaus Gegenwehr, die Aggression ging aber so gut wie immer von den organisierten Prügeltrupps der Nationalsozialisten und der Heimwehr-Studenten aus, etwa auch bei den schweren Krawallen nach Ablehnung der Gleispach‘schen Studentenordnung im Juni 1931.
Höhepunkte des Terrors 1932/33
Schließlich erregten die Gewaltexzesse unter Rektor Othenio Abel 1932/33 sogar internationale und diplomatische Aufmerksamkeit: Nach neuerlichen schweren Angriffen auf das Anatomische Institut Tandlers am 26. Oktober 1932, bei dem Schlagringe, Peitschen, Messer und Ruten zum Einsatz kamen, wurde von verletzten US-Studenten das Konsulat eingeschaltet. Die „New York Times“ berichtete abermals ausführlich – so wie auch über die folgenden Krawalle.
Trotz der Zusagen des Rektors gegenüber dem Bundeskanzler und dem Konsulat, für Ruhe zu sorgen, eskalierte die Gewalt. Am 17. März 1933 stürmten 40 nationalsozialistische Studenten, die mit Stahlruten, Gummiknüppeln, Sesselbeinen und Lederriemen ausgerüstet waren, das Anatomische Institut und verletzten neben etlichen Studierenden auch zwei Assistenten Tandlers und einen Laboranten. Wie schon so oft zuvor musste auch diesmal die Universität geschlossen werden.
Der letzte Gewaltexzess 1933
Der letzte große Gewaltexzess fand dann am 9. Mai 1933 statt: Nach Vorlesungsschluss drängten NS-Prügeltrupps Hörerinnen und Hörer am I. Anatomieinstitut in den Gang, der zu Seziersälen und Studierlokal führte. Einige sprangen in Panik und zum Teil bereits verwundet aus dem ersten Stock und verletzten sich dabei zusätzlich. Als die liberale „Neue Freie Presse“ am Tag darauf Bilanz der Hochschulkrawalle zog, wurden zwölf Verhaftungen und 20 ernster Verletzte vermeldet, darunter neun Studierende aus den USA.
Von den Ereignissen entnervt nahm Julius Tandler 1933 einen Lehrauftrag in China an. Nach der Machtübernahme der Austrofaschisten 1933/34 wurde effizienter gegen den antisemitischen Terror der nationalsozialistischen Studierenden vorgegangen, was für weitgehende Ruhe sorgte. Doch auch Tandler selbst war den Machthabern unerwünscht: Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus China im März 1934 wurde er verhaftet und aus politischen Gründen zwangspensioniert.
Artikel
- Antisemitismus an der Universität Wien
- Von einer fiktiven Ketzerverschwörung zum Juden-Pogrom
- Üble Behandlung in Worten und Werken
- „Furor teutonicus und Rassenhass“
- Studentisches Korporationswesen im 19. und 20. Jahrhundert
- Die Bärenhöhle, eine geheime antisemitische Professorenclique der Zwischenkriegszeit
- Die Gleispachʼsche Studentenordnung
- Der Mord an Prof. Moritz Schlick
- Terror gegen das Anatomische Institut von Julius Tandler
- Austrofaschismus/Konkordate und Konfessionalisierung (Arbeitstitel)
- Vertreibung von Lehrenden und Studierenden 1938
- Die „Arisierung“ des Arkadenhofs
- Die Entnazifizierung der Professorenschaft an der Universität Wien
- Die Borodajkewycz-Affäre 1965
- Denkmal „Siegfriedskopf“
- Studierende und Lehrende als politische Akteur*innen im 19. und 20. Jahrhundert
- Die Akademische Legion 1848
- Studentisches Korporationswesen im 19. und 20. Jahrhundert
- Terror gegen das Anatomische Institut von Julius Tandler
- Entlassungen politischer Gegner*innen an der Universität Wien im Austrofaschismus
- Der Mord an Prof. Moritz Schlick
- Vertreibung von Lehrenden und Studierenden 1938
- Äußere Umstrukturierung nach dem „Führerprinzip“ und NS-Funktionäre
- Widerstand gegen den Nationalsozialismus
- Die Entnazifizierung der Professorenschaft an der Universität Wien
- Entnazifizierung der Studierenden an der Universität Wien nach 1945
- Das Jahr 1968
- Österreichische Hochschülerschaft
Zuletzt aktualisiert am : 30.10.2023 - 12:42